Titelstory über „Protokoll einer Vertuschung“ in Wuhan: „Spiegel“ unterstützt Trumps Propaganda
Dass der Spiegel sich zum Propagandisten der US-Regierung macht, ist nicht neu. Aktuell sieht man es wieder besonders deutlich an der Titelgeschichte des ehemaligen Nachrichtenmagazins über die US-Vorwürfe gegen China.
Die Titelstory der aktuellen Ausgabe des Spiegel lautet „Was geschah in Wuhan und wer hat Schuld an der Pandemie? Protokoll eine Vertuschung“. Und bei Spiegel-Online lautet die Überschrift des gleichen Artikels „Vertuschter Corona-Ausbruch – Muss Peking für die Pandemie-Schäden zahlen?“
Wenn es einen Preis für irreführende Überschriften gäbe, wäre dieser Spiegel-Artikel mit seinen beiden Überschriften ein ganz heißer Anwärter. Beide Überschriften unterstellen ganz eindeutig, dass China beim Corona-Ausbruch etwas vertuscht habe. Im Artikel wird das nicht belegt, nur behauptet und von von einem „Protokoll“ aus Wuhan ist in dem Artikel nicht einmal die Rede, wie wir gleich sehen werden.
Aber das Motiv, solche Überschriften zu setzen, ist offenkundig: Der Leser soll glauben, China habe etwas vertuscht.
Man sieht immer wieder in Überschriften der „Qualitätsmedien“, dass Überschrift und Inhalt des Artikels nicht zwangsläufig viel miteinander zu tun haben. Die Überschriften werden oft bewusst eingesetzt, um das gewollte Narrativ zu verbreiten. Die meisten Menschen sehen das Titelbild des Spiegel, ohne den Artikel zu lesen (und erst recht nicht aufmerksam zu lesen). Bei denen, die nur den Titel, aber nicht den Artikel gelesen haben – und das ist die Mehrheit – entsteht der Eindruck, China habe etwas vertuscht. Dass das dann im Artikel gar nicht belegt wird – und wie wir gleich sehen werden, nicht einmal eindeutig behaupten wird -, müssen die Menschen ja nicht wissen. Das Narrativ ist erfolgreich gesetzt, die Meinungsbildung der Menschen ist in die gewollte Richtung beeinflusst.
Dabei macht sich der Spiegel ausgerechnet zu einem Propagandisten von Trump, den er doch eigentlich gar nicht mag. Die Thesen, China habe bei Corona etwas vertuscht, China solle dafür Schadenersatz zahlen, ja sogar, China habe das Virus absichtlich in die Welt gesetzt, werden von der Trump-Administration – namentlich vor allem von Trump, Pence und Pompeo – in die Welt getragen und dann über die bekannten Netzwerke „bestätigt“.
Das weiß auch der Spiegel und so beginnt seine Titelstory mit Trumps Vorwürfen, die im Spiegel zunächst nicht überzeugend klingen. Sogar der – durchaus passende – Vergleich mit dem Irak-Krieg von George Bush wird im Spiegel erwähnt:
„So einfach ist das aus der Sicht von Donald Trump: Peking ist schuld, er ist der Leidtragende, vor allem er. Vorige Woche behauptete Trump, er habe Belege für die These gesehen, dass das Virus aus einem Labor in Wuhan entwichen sei. Auf die Frage eines Reporters, was das für Belege seien, antwortete er: „Das darf ich Ihnen nicht sagen.“
Einige Beobachter fühlten sich an die Ereignisse vor dem Irakkrieg 2003 erinnert. Damals erklärte Außenminister Colin Powell in einer Rede vor den Vereinten Nationen, seine Regierung könne belegen, dass Saddam Hussein über ein ausgefeiltes Chemiewaffenprogramm verfüge. „Ich kann Ihnen nicht alles verraten, was wir wissen“, sagte Powell damals. Später stellte sich heraus, dass Saddams Chemiewaffenprogramm gar nicht existierte.“
Der Spiegel ignoriert geflissentlich, dass er vor dem Irak-Krieg 2003 auch einer der medialen Unterstützer der US-Propaganda gegen den Irak war. Zwar wirkten die meisten Spiegel-Artikel aus der Zeit kritisch gegenüber den US-Kriegsplänen, die in Deutschland sehr unpopulär waren, aber das wichtigste Narrativ der US-Propaganda, der Irak habe Massenvernichtungswaffen, vielleicht sogar Atombomben, hat der Spiegel mitgetragen.
Beispiel gefällig? Bitte sehr: Über das diplomatische Hin und Her über die UNO-Waffeninspektoren schrieb der Spiegel ein halbes Jahr vor dem Krieg:
„Doch ob der Kurswechsel in Bagdad Washingtons geplanten Waffengang noch verhindert, bleibt vorerst offen. Zu ungewiss scheint, ob Saddam tatsächlich zur Einsicht gekommen ist und die Waffenarsenale des Irak den Kontrolleuren ohne Tricks öffnet.
Das jahrelange Katz-und-Maus-Spiel des Despoten mit den Uno-Waffeninspektoren nährt zumindest Zweifel an Saddams Aufrichtigkeit.“
Wer sich die Spiegel-Artikel aus der Zeit vor dem Krieg anschaut, findet vorgeblich Kriegs-kritische Artikel, die aber alle die US-Lüge der irakischen Massenvernichtungswaffen verbreitet haben. Die berechtigten Zweifel, die es auch damals schon gab, hat der Spiegel ignoriert. So auch in diesem Beispiel: Die „Waffenarsenale“ des Irak, in denen auch Massenvernichtungswaffen lagern, werden als unbestrittene Wahrheit dargestellt.
Und genau nach der gleichen Methode geht das ehemaligen Nachrichtenmagazin heute in Sachen vor. Es veröffentlicht Artikel, die vorgeblich kritisch über Trumps Anschuldigungen berichten, aber sein Narrativ dabei trotzdem verbreiten, wie die beiden verschiedenen Überschriften des Artikels deutlich zeigen.
Nach den eben zitierten Absätzen macht der Spiegel seinen Lesern denn auch sofort klar, warum heute natürlich alles ganz anders ist, als 2003 beim Irak: „
Der Unterschied ist, dass diesmal die Regierung von Präsident Xi Jinping ihren Kritikern genügend Angriffsfläche bietet, weil die chinesischen Behörden zu Beginn der Pandemie gezielt Erkenntnisse zurückhielten, falsche Informationen verbreiteten, die Aufklärung bremsten, Ärzte mundtot machten, Berichte zensierten und so zwischen Ende Dezember und Ende Januar wertvolle Zeit verschenkten, in der das Virus früher hätte eingedämmt werden können.“
Klingt alles ganz eindeutig, aber ist das auch so? Die Antwort findet der aufmerksame Leser viel später in dem gleichen Artikel. Aber man muss schon sehr aufmerksam lesen.
Vorher aber kommen erst einmal lange Passagen, in denen der Spiegel-Leser viel über chinesische Propaganda erfährt und darüber, wie „Pekings Diplomaten“ zu „aggressiven Verstärkern der Regierungspolitik“ werden uns so weiter und so fort. Die Adjektive sind geschickt gesetzt, China und seine Diplomaten sind „aggressiv“. All dieser Dinge beeinflussen den Leser unterbewusst.
Dann wird in dem Artikel darauf eingegangen, ob es rechtlich überhaupt möglich ist, China zu Schadenersatz zu verpflichten. Man kann dazu zum Beispiel lesen:
„“Auch hier gilt der völkerrechtliche Grundsatz“, sagt der Göttinger Völkerrechtsprofessor Frank Schorkopf, „dass Staaten für völkerrechtswidriges Handeln verantwortlich sind und Schäden prinzipiell ersetzen müssen.“ Die britische Henry Jackson Society, ein konservativer Thinktank, schätzt die Schadenssumme durch die Pandemie allein in den G-7-Staaten auf mindestens 3,6 Billionen Euro.“
Viele Kritiker werfen dem Spiegel vor, er sei die „Bild-Zeitung für Menschen mit Abitur“ und dieser Absatz bestätigt den Vorwurf. Der genannte Thinktank ist gut in die transatlantischen Strukturen eingebunden und hat seine erste „Schätzung“ schon am 5. April veröffentlicht. Demnach „schulde“ China allein den G7-Staaten 3,2 Billionen Dollar. Die Bild-Zeitung (bekanntlich ebenfalls transatlantisch eingehegt) hat diese Forderung am 15. April unter der Überschrift „BILD präsentiert die Corona-Rechnung – Was China uns jetzt schon schuldet“ übernommen. Über die Zusammenhänge habe ich am 18. April berichtet. Und am 8. Mai ging die aktuelle Spiegel-Titelstory mit dieser Information online.
Nachdem der Spiegel seinem Leser ausführlich von chinesischer Propaganda, von völkerrechtlichen Möglichkeiten für Schadenersatz und den „Angriffsflächen“, die China angeblich bietet, erzählt und seinen Leser ordentlich gegen China in Position gebracht hat, kommt der Spiegel immer noch nicht zu den Ereignissen in Wuhan. Wir erinnern uns: Die Überschrift versprach uns doch das „Protokoll einer Vertuschung“, wovon aber in dem Artikel bisher nichts zu finden ist.
Stattdessen geht der Spiegel dann auf die Corona-Schäden ein. Über eine Million Infizierte, 73.000 Tote und massenhafte Arbeitslosigkeit hat das Virus in den USA verursacht, erfahren wir im Spiegel. Dann erwähnt das ehemalige Nachrichtenmagazin, dass die „meisten US-Verbündeten Trumps These für Unfug“ halten. So ähnlich begann es übrigens auch mit dem Irak kurz nach 9/11, das nur am Rande. Und wie bei 9/11 und dem Irak dürfen die Geheimdienste nicht fehlen, von denen der Spiegel dann schreibt:
„Dabei halten auch die meisten US-Verbündeten Trumps These für Unfug, dass das Virus aus einem Labor entwichen sein könnte. Am vergangenen Wochenende erregte eine australische Zeitung zwar Aufsehen, als sie über ein Geheimdienstdossier mit vermeintlichen Indizien für die Laborthese berichtete – doch dafür scheint es keine Belege zu geben. Gewöhnlich tauschen amerikanische Geheimdienste einen Teil ihrer Erkenntnisse im „Five Eyes“-Netzwerk aus, zu dem neben den USA auch Australien, Großbritannien, Kanada und Neuseeland gehören. Dem Netzwerk liegen laut „Guardian“ jedoch keine Informationen vor, die auf einen Laborunfall hinwiesen.“
Über den „Bericht“ der „Five Eyes“ könnte man weit mehr schreiben und ich habe das bereits getan. Auch der Spiegel hatte darüber schon berichtet, damals aber seinen Lesern verschwiegen, dass der Guardian die ganze Geschichte in der Luft zerrissen hat. Wie das angebliche „Geheimdienstdossier“ entstanden ist, konnte man problemlos zurückverfolgen: Trumps Behauptungen werden von Fox-News in die Welt getragen, Fox-News gehört Rupert Murdoch und die – dieses Mal im Spiegel nicht namentlich genannte – australische Zeitung Daily Telegraph, die über das angebliche Geheimdienstdossier berichtet hat, gehört wem? Richtig: Rupert Murdoch. Die Details und auch wie der Guardian dieses offensichtlich konstruierte „Geheimdienstdossier“ auseinander genommen hat, finden Sie hier.
Im Spiegel geht es aber noch weiter mit den Geheimdiensten. Erinnern Sie sich an Richard Grenell? Das war der US-Botschafter, 2019 im Zusammenhang mit Nordstream 2 immer wieder Drohbriefe an deutsche Firmen verschickt hat und dafür sogar von ansonsten US-treuen deutschen Politikern kritisiert wurde. Der gute Mann ist immer noch US-Botschafter in Berlin, aber nur noch im Nebenjob. Hauptberuflich ist der heute für die US-Geheimdienste zuständig. Über ihn schrieb der Spiegel (ohne ihn – wie die Chinesen – als „aggressiv“ zu bezeichnen) in seiner aktuellen Titelstory:
„Selbst US-Geheimdienste wollen Trumps Laborthese nicht bestätigen. Man untersuche derzeit, ob das Virus von Tieren auf den Menschen übertragen wurde oder ob der Ausbruch auf einen Laborunfall in Wuhan zurückgehe, teilte der kommissarische Geheimdienstdirektor und Trump-Vertraute Richard Grenell – im Nebenjob US-Botschafter für Deutschland – vorige Woche mit. Festlegen wollte er sich nicht.“
Das klingt nach einer ergbnisoffenen Suche, ganz so, wie es auch vor dem Irak-Krieg angeblich eine ergbnisoffene Suche nach Massenvernichtungswaffen gegeben hat. Und so kommt, ganz nach dem Muster von 2002, dann folgendes beim Spiegel:
„Und doch übt die Regierung offenbar massiv Druck auf die Geheimdienste aus, Belege zu liefern. Außenminister Mike Pompeo, der in Washington zu den Hardlinern der Chinapolitik gehört, sagte drei Tage nach Grenells Mitteilung, er habe „überwältigende Beweise“ für die Laborthese gesehen. Details lieferte er nicht.“
So begann es auch 2002 beim Irak, bis dann Powell im UN-Sicherheitsrat mit einem Reagenzglas mit weißem Pulver herum gewedelt hat. Wir dürfen also neugierig sein, welche Farbe das Pulver haben wird, mit dem Pompeo irgendwann vor laufenden Kameras die Beweise gegen China präsentieren wird.
Übrigens, wie war nochmal die Überschrift des Spiegel-Artikels? Wo ist denn nun das „Protokoll der Vertuschung“?
Es kommt am Ende des Artikels. Und es füllt nicht einmal einen Absatz:
„Zugleich bezweifelt kaum einer im Westen noch, dass sich die Pandemie besser hätte eindämmen lassen, wenn China den Informationsfluss nicht gebremst hätte. Nach Erkenntnissen des BND drängte China die Weltgesundheitsorganisation sogar dazu, eine weltweite Warnung zu verzögern. Am 21. Januar habe Chinas Staatschef Xi Jinping bei einem Telefonat mit WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus gebeten, Informationen über eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung zurückzuhalten und eine Pandemiewarnung zu verschleppen. Die WHO habe eine Woche lang stillgehalten. Das Urteil des BND fällt harsch aus: Mindestens vier, wenn nicht sechs Wochen seien durch die Informationspolitik Pekings in der Bekämpfung des Virus verloren gegangen.“
Und diesen Absatz muss sehr genau lesen, denn er ist ein propagandistisches Meisterwerk.
Es beginnt damit, dass der Spiegel es als Tatsache dargestellt, dass China Informationen zurückgehalten hat. Das „bezweifelt kaum einer im Westen„, wie wir erfahren. Wenn das wahr wäre, würde es bedeuten, dass im Westen kaum jemand logisch denken kann oder auch nur die Grundrechenarten beherrscht, wie wir gleich sehen werden.
Nachdem der Spiegel-Leser das erfahren hat, erfährt er, dass auch der BND Informationen hat und von einem Telefonat zwischen Chinas Staatschef und dem WHO-Chef berichtet, das diese Behauptung bestätigt. Die WHO habe daraufhin „eine Woche lang stillgehalten„. Das ist der harte Beweis, die „Smoking Gun“!
Das Problem dabei: Es ist gar nicht wahr, wie der Spiegel aber nicht etwa in diesem Absatz, sondern erst ganz am Ende des Artikels hinzufügt:
„Nachtrag: Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat nach Erscheinen dieses Beitrags bestritten, dass es am 21. Januar ein Telefonat zwischen Chinas Staatschef und dem WHO-Generalsekretär gab. Ein Sprecher teilte mit, die beiden hätten „niemals per Telefon“ über die Corona-Pandemie gesprochen.“
Der Spiegel wird gewusst haben, warum er vor Veröffentlichung des Artikels nicht bei der WHO nachgefragt hat. Diesen wichtigen Schlüsselabsatz hätte er dann nicht schreiben können und sein ganzes „Protokoll der Vertuschung“ wäre in sich zusammengebrochen.
Nun zum logischen Denken und den Grundrechenarten.
Selbst wann alle Behauptungen in dem zitierten Absatz stimmen würden, erklären Sie mir bitte folgendes: Der BND behauptet laut Spiegel, es wären vier oder sogar sechs Wochen verloren gegangen, weil China angeblich am 21. Januar um Zurückhaltung von Informationen gebeten habe. Spätestens ab dem 23. Januar kann davon aber gar keine Rede mehr sein, denn an dem Tag hat China Wuhan abgeriegelt und unter Quarantäne gestellt, eben weil das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar ist.
Selbst wenn es das Telefonat gegeben hätte, reden wir von zwei Tagen und nicht vier oder sechs Wochen. Aber wer legt beim Lesen den Artikel kurz zur Seite, um sich über einen einzelnen Absatz ausführlich Gedanken zu machen? Das Narrativ wurde so geschickt beim Leser gesetzt.
In der gleichen Ausgabe des Spiegel ist auch ein Interview mit dem chinesischen Botschafter in Deutschland abgedruckt. Er zeigt darin die Chronologie auf, die jeder leicht überprüfen kann, die Medien haben über alles zeitnah berichtet:
„Die chinesischen Behörden hatten am 27. Dezember die erste Meldung einer Lungenkrankheit unbekannter Ursache, vier Tage später wurde die Weltgesundheitsorganisation WHO darüber informiert, eine Woche darauf wurde der Krankheitserreger identifiziert, am 12. Januar machte China fünf vollständige Genomsequenzen des Virus öffentlich, und am 23. Januar wurde die Elfmillionenmetropole Wuhan komplett abgeriegelt“
Wo hat China hier etwas verzögert?
China hat – mit wesentlich weniger Informationen, als der Westen sie einige Monate später hatte – wesentlich schneller reagiert, als die Staaten des Westens. Auch schneller, als die USA, die China nun die Vorwürfen machen.
Aber das liest man im Spiegel nicht, er verbreitet stattdessen den „Unfug“ von Trump.
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„“Auch hier gilt der völkerrechtliche Grundsatz“, sagt der Göttinger Völkerrechtsprofessor Frank Schorkopf, „dass Staaten für völkerrechtswidriges Handeln verantwortlich sind und Schäden prinzipiell ersetzen müssen.“
Mal gespannt wenn diesbezüglich die ersten Rechnungen von Deutschland beglichen werden müssen, wegen den Völkerrechtswidrigen Einsätzen der Bundeswehr…?