3. Teil der Serie: Wie bei Wikipedia einzelne User nach Belieben Artikel manipulieren
Im dritten Teil der Serie über Wikipedia geht es um Folter und darum, wie diese durch Autoren der Wikipedia verschleiert wird. Dazu sehen wir uns einen Artikel über ein israelisches Foltergefängnis an.
In Israel gab es das sogenannte Camp 1391, das in der deutschen Wikipedia allerdings nichts als „Lager“ bezeichnet wird, sondern als „Anlage 1391“. Das klingt wahrscheinlich netter, als „Lager 1391“. Dieses Lager war streng geheim, auf Luftaufnahmen wurde es sogar herausretuschiert. Seit wann das Lager bestand ist nicht genau bekannt. Bekannt ist lediglich, dass es bereits 1985 genutzt wurde, um ausländische Gefangene zu internieren und zu verhören. Da das Lager geheim war, waren die Gefangenen verschwunden. Niemand, nicht die Angehörigen, nicht das Rote Kreuz und keine Anwälte wussten, wo die Gefangenen waren oder ob sie überhaupt noch am Leben waren.
Viele Gefangene waren – oft Jahre lang – einfach verschwunden, ganz so, wie wir es aus den schlimmsten Zeiten südamerikanischer Militärdiktaturen kennen. Auch die Gefangenen selbst wussten nicht, wo sie waren. Wenn sie danach fragten, war die Antwort zum Beispiel: „Auf dem Mond“.
Die Haftbedingungen waren schrecklich. Die Zellen waren teilweise nur zwei mal zwei Meter groß, sie hatten keine Toiletten oder Waschbecken und waren komplett schwarz gestrichen. Auf diese Weise konnten die Gefangenen in kompletter Dunkelheit gehalten werden. Auch Schlafentzug war normal, Gefangene berichteten, man habe ihnen oft über lange Zeit täglich nicht mehr als zwei Stunden Schlaf erlaubt.
Und es wurde in dem Gefängnis massiv gefoltert. Neben der Isolationshaft und dem Schlafentzug wurden die Gefangenen bei Verhören geschlagen und anal wahlweise von Soldaten oder mit Holzstöcken vergewaltigt.
2002 reichte eine Menschenrechtsorganisation Klage in Israel ein, um herauszufinden, wo einige Palästinenser gefangen gehalten wurden. Dabei wurde zwar die Existenz des Lagers bekannt, aber das Gericht verweigerte die Bekanntgabe des Standorts, lediglich eine Liste der Gefangenen sollten die Behörden herausgeben. Der Standort wurde erst bekannt, als ein Historiker beim Vergleich von Luftbildern feststellte, dass eine alte Polizeistation aus der Kolonialzeit auf modernen Luftaufnahmen weg retuschiert war. So wurde 2004 der Standort bekannt.
Auch die Presse hat das Thema 2003 aufgegriffen, zumindest ein bisschen. Im Zuge der Klage von 2002 wurde ein israelischer Offizier unter dem Namen „George“ bekannt, der der schlimmste „Verhörspezialist“ gewesen sein soll. Und als es um eine Strafe für sein Verhalten ging, meldeten sich auch andere Soldaten zu Wort, die sich über eine mögliche Strafe beschwerten, denn sie hätten ja nur auf Anweisung gehandelt. Die israelische Zeitung Haaretz schrieb damals einen sehr langen Artikel unter der Überschrift „UN fragt Israel zu palästinensischen Foltervorwürfen“ In dem Artikel stand unter anderem zu lesen:
„Vor dem Bezirksgericht von Tel Aviv ist noch eine Klage von Dirani gegen den Staat Israel und Major George wegen zweier Vorfälle anhängig, bei denen Dirani sagt, er sei sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen. Im ersten Fall rief George vier der Soldaten hinzu, die Wachdienst in der Einrichtung leisteten, und einer von ihnen soll Dirani auf Befehl von George vergewaltigt haben. In einem anderen Fall, sagt Dirani, habe George selbst einen Holzstab in sein Rektum gesteckt.
Das Gericht wird entscheiden müssen, ob diese Dinge so geschehen sind. Eine Durchsicht der eidesstattlichen Versicherungen, die dem Gericht vorgelegt wurden, Zeugenaussagen von Offizieren und Soldaten, die in der Einrichtung gedient haben, und Beweise, die von anderen Häftlingen, die dort waren, gegeben wurden, zeichnen ein Bild einer schrecklichen Routine in den Verhörräumen des Lagers 1391. Im Rahmen dieser Routine haben die Vernehmungsbeamten des Referats 504 extreme Maßnahmen angewendet, um Informationen zu gewinnen.
„Ich weiß, dass es üblich war, mit dem Einführen eines Stocks zu drohen“, sagt T.N., ein Vernehmungsbeamter der Einrichtung, in seiner Aussage gegenüber den Ermittlern der Militärpolizei. „Die Absicht war, dass der Stock eingefügt werden würde, wenn der Gefangene nicht sprechen wollte … Ich erinnere mich an einen Fall, als etwas in dieser Art getan wurde … George verhörte einen der Gefangenen … Er rief S. und mich. Wir kamen in den Raum und S. ließ seine Hose fallen und blieb in seiner Unterwäsche oder er machte Klickgeräusche mit seinem Gürtel, als ob er ihn öffnete … S. tat dies während der Vernehmung, als George [dem Gefangenen] sagte, dass er in den Arsch vergewaltigt werden würde … Ich erinnere mich mit Sicherheit, dass Vergewaltigung angedroht wurde.“
„Ich möchte über diesen Gefangenen hinzufügen, dass er nackt, in Handschellen und mit bedecktem Kopf ins Zimmer kam. S. und ich waren im Zimmer und einer von uns führte ihn durch den Raum und der andere hielt den Stock neben seinem Hinterteil, als Provokation und Drohung, weil er beim (unerlaubten) Liegen erwischt worden war, dass der Stock seinen Arsch geschoben werden würde. Wenn ich sage, dass der Stock neben seinem Hinterteil gehalten wurde, war die Idee, seinen Po mit dem Stock zu berühren und ihn vielleicht sogar nahe an das Rektum zu schieben, damit er denken würde, wir würden ihn wirklich hineinstecken.“
Diranis Beschwerde, zusammen mit anderen Zeugenaussagen über das, was in den Verhörräumen des Lagers 1391 vor sich ging, öffnete eine Büchse der Pandora in der Armee. Georges Verteidigungslinie war klar: Das System, sagte er, habe ihn fallen gelassen; alles, was er getan hatte, wurde mit Genehmigung getan. Jeder wusste davon, jeder gab seine Unterstützung, und jetzt leugnen es alle. Um seinen Fall zu untermauern, präsentiert George eine Petition, die von etwa 60 Reserveoffizieren und Soldaten der Einheit unterzeichnet wurde, in der sie sagen, es sei falsch, dass George persönlichen für die Anwendung von solchen Arbeitsmethoden zahlen muss, die in der Einheit seit vielen Jahren Standard waren.“
Strenge Strafen wurden nicht verhängt und der Standort von Lager 1391 wurde – wie erwähnt – weiterhin geheim gehalten. Obwohl zumindest französische und britische Zeitungen 2003 mal kurz über Lager 1391 berichtet haben, hielten die deutschen „Qualitätsmedien“ es nicht für interessant genug, um ihren Lesern davon zu berichten.
Erst als auch das UNO Komitee gegen Folter 2009 in einem Bericht über die Folter in Israel berichtete, war das den deutschen Medien kurze Artikel wert. In einem kurzen Spiegel-Artikel konnte man damals lesen:
„Die Uno-Experten werfen Israel vor, palästinensische Gefangene an einem geheimen Ort auf israelischem Staatsgebiet festzuhalten und dort Verhörmethoden anzuwenden, die gegen die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen verstoßen. Genannt werden unter anderem Schläge, Schlafentzug und das Sitzen in schmerzhaften Stellungen. Insgesamt seien laut Uno zwischen 2001 und 2006 etwa 600 Beschwerden über Misshandlungen oder Folter gegen Israel vorgebracht worden. Den Anschuldigungen sei bisher allerdings nicht nachgegangen worden. Die Uno-Experten forderten Israel daher auf, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz Zugang zu der Anlage zu gewähren. Auch Anwälte und Angehörige dürften die Häftlinge in dem Geheimgefängnis bislang nicht besuchen.“
Der Spiegel zitierte auch die Realtion Israels:
„Israel wies die Vorwürfe zurück. Die „Anlage 1391″ werde seit September 2006 nicht mehr als Haftanstalt genutzt, heißt es in einer schriftlichen Antwort. Es fänden dort auch keine Verhöre mehr statt. Die Foltervorwürfe seien von den israelischen Behörden bereits untersucht und entkräftet worden.“
Die Information über die Schließung von Lager 1391 dürfte der Wahrheit entsprechen, denn es war ein Geheimgefängnis und mit der Geheimhaltung war es ja schon seit spätestens 2003 nicht mehr weit her. Aber niemand hat die Frage gestellt, ob nicht einfach ein anderes Geheimgefängnis Lager 1391 ersetzt hat. Hinweise darauf gibt es.
Und damit kommen wir zu Wikipedia.
Im Jahr 2007 wurde im deutschen Wikipedia ein Artikel über Lager 1391 angelegt. Und dort konnte man am Ende des Artikels, als es um das Gerichtsverfahren und dessen Ergebnisse ging, folgendes lesen:
„Amtlich bestätigt wurde dabei auch eine Anlage Barak; vermutet wird eine Weitere bei Tel Aviv namens Sarafend.“
Aber über diese Lager ist nichts bekannt, zumindest konnte ich dazu nichts finden.
Diese erste Version des Wikipedia-Artikels über Lager 1391 hat auch noch folgende Sätze enthalten:
„Danach ist den Inhaftierten, die zu 68 % der Folter unterzogen werden, der Zugang zu Anwälten und das Wissen um den Ort des Aufenthalts verwehrt, Familienkontakt nur selten möglich. Es gibt fensterlose Isolationshaft in kleinen Zellen mit Dauerbeleuchtung, was als mentale Folter gilt und zum DDD-Syndrom führt.“
Später fanden sich diese Formulierungen in dem Artikel unter der Überschrift „Menschenrechtsverletzungen„. Und so lebte der Artikel ein beschauliches Leben, das am 15. Juni 2017 ein jähes Ende fand. An diesem Tag nahm sich der User Feliks den Artikel vor.
Über Feliks habe ich am Dienstag bereits im zweiten Teil meiner Wikipedia-Serie berichtet, bitte lesen Sie die Details hier nach. Nur in Kürze: Die Identität von Feliks wurde von Markus Fiedler und Dirk Pohlmann enttarnt. Er wurde als Jörg Egerer geboren, ist später zum Judentum konvertiert und heißt nun Jörg Grünewald. Feliks hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in der deutschen Wikipedia den Ruf von Israel zu verbessern und er wurde zum vielleicht wichtigsten Autoren für alle Artikel, die mit Israel, den Palästinensern, dem Nah-Ost-Konflikt und so weiter zu tun haben. Dabei entfernte er aus Artikeln konsequent alles, was Israels Politik in ein schlechtes Licht rücken könnte.
So auch bei dem Artikel über das Lager 1391. Die Überschrift „Menschenrechtsverletzungen“ verschwand und auch die vielen anderen hässlichen Begriffe. Nachdem Feliks den Artikel am 15. Juni 2017 insgesamt 14 Mal verändert hatte, war alles kritische aus dem Artikel getilgt.
In der Folgezeit wurde Feliks der Hauptautor des Artikels, der ein Jahr später über 60 Prozent aller Bearbeitungen durchgeführt hatte. Das endete im September 2018 abrupt. Zu diesem Zeitpunkt gaben Fiedler und Pohlmann bekannt, seine Identität aufgedeckt zu haben. Feliks musste nun befürchten, wegen seiner teils nicht statthaften Änderungen von Artikeln und insbesondere wegen seiner Verleumdungen gegen Menschen, die kritisch gegenüber Israel waren, juristisch belangt zu werden. Er hatte nämlich seine Macht als anonymer Wikipedia-Schreiberling ausgenutzt, um viele Menschen, deren politische Einstellung ihm nicht gefiel, in die Nähe von Antisemitismus zu rücken. Es waren Rufmord-Kampagnen (siehe Teil 2 meiner Wikipedia-Serie).
Er prozessierte gegen Pohlmann und Fiedler, weil diese seine Identität öffentlich gemacht haben, hat den Prozess aber in erster Instanz verloren.
Seit dem Feliks den Artikel nicht mehr bearbeitet, ist nahtlos ein anderer Wikipedia-User namens Hvd69 eingesprungen. Nun findet sich in dem Artikel zwar die Überschrift „Foltervorwürfe„, das Kapitel geht aber nur in sehr allgemein gehaltenen Formulierungen auf die Vorgänge in Lager 1391 ein. Der deutsche Leser soll möglichst keine Details erfahren.
Im englischsprachigen Wikipedia ist der Artikel anders aufgebaut. Auch dort fehlen zwar deutliche Worte und das entsprechende Kapitel trägt die nichtssagende Überschrift „Kritik„, aber immerhin kann man da die meisten Tatsachen erfahren, ganz im Gegensatz zur deutschen Version des Artikels.
Wir fassen zusammen: In Israel gab es mindestens ein Foltergefängnis, in dem Gefangene für Jahre verschwunden sind, ohne dass Anwälte, Angehörige, Hilfsorganisationen und so weiter auch nur wussten, wo sie waren und ob sie noch lebten. Dort wurde massiv gefoltert, in dem Gerichtsverfahren kam ans Licht, dass 68 Prozent der Häftlinge gefoltert wurden. Also zusätzlich zu den Haftbedingungen, die für sich selbst genommen bereits Folter darstellen. Das Lager wurde dann geschlossen, aber niemand hält es für nötig, der Frage nachzugehen, ob es nicht nur durch ein anderes Lager ersetzt wurde. Hinweise gibt es reichlich. Nicht einmal Israel selbst hat explizit gesagt, es habe diese Praxis von Geheimgefängnissen eingestellt, Israel hat nur mitgeteilt, dass Lager 1391 2006 geschlossen wurde.
Da wäre es doch Aufgabe der Medien, Nachforschungen anzustellen und bohrende Fragen zu stellen. Aber in den deutschen „Qualitätsmedien“ gab es ja nicht einmal wirkliche Berichte über Lager 1391, wie wir an dem Spiegel-Artikel von 2009 sehen konnten. Mehr haben deutsche Leser von ihren „kritischen“ Medien nicht erfahren.
Und Wikipedia – das angeblich demokratische Online-Lexikon – lässt es zu, dass jemand den Artikel über das Lager so bearbeitet, dass er möglichst harmlos aussieht und dass er alle kritischen Veränderungen des Artikels verhindert.
An dieser Stelle sind Leser, die über einen Wikipedia-Account verfügen, dazu aufgerufen, mich zu widerlegen: Nehmen Sie einfach mal die englische Version des Artikels inklusive Links, übersetzen Sie sie und fügen Sie sie in den deutschen Artikel ein. Wenn Sie Lust haben, können Sie auch ein paar Auszüge aus dem zitierten Artikel der israelischen Zeitung Haaretz hinzufügen und als Quelle angeben. Wir können dann ja mal abwarten, wie lange das online bleibt, bevor es wieder gelöscht wird und ob Sie nicht bei der Wikipedia eventuell gesperrt werden. Sie dürfen mir über die Ergebnisse gerne per Mail oder in den Kommentaren zu diesem Artikel berichten.
Den 4. Teil der Serie über Wikipedia finden Sie hier.
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Dass Unternehmen und Institutionen Leute anstellen, um ihr „Profil“ aufzupolieren oder Verbrechen an der Menschlichkeit zu entfernen oder zu downgraden ist sicher etwas was man in einem System wie Wikipedia, wo es eben keine fachliche Redaktion gibt, erwarten muss.
Wikipedia wird sich nur verbessern, wenn der Ruf bei den Usern leidet und es die Leute nicht mehr anklicken und keine Spenden mehr einzahlen. Ich glaube nicht, dass es so weit kommt, der Unterhalt der Site ist ja nicht extrem teuer.
Damit bleibt wie immer nur der Wettbewerb – andere Länder oder private Gruppen müssen ein qualitativ höherstehendes Produkt aufbauen.
Da die Veränderungen bei bekannten „anfälligen“ Themen aber so leicht nachverfolgt werden können, kann man die Qualität von Wikipedia auch relativ leicht messen und veröffentlichen.