Wie alles begann

Teil 13: Der Weg zum Bürgerkrieg

Ich werde drei Wochen lang an jedem Wochentag einen Teil der Chronologie der Ereignisse des Jahres 2014 veröffentlichen, die den Grundstein für den Krieg in der Ukraine gelegt haben.

Die Ereignisse des Jahres 2014 haben den Grundstein für die Eskalation in der Ukraine gelegt, zu der es vor fast einem Jahr gekommen ist. In meinem Buch über die Ukraine-Krise habe ich die Ereignisse des Jahres 2014 auf über 700 Seiten chronologisch dokumentiert. Da sich diese Ereignisse nun zum neunten Mal jähren, werde ich in den nächsten drei Wochen täglich ein Kapitel aus dem Buch als Leseprobe veröffentlichen.

In dieser 15-teiligen Serie werde ich die Chronologie der Ereignisse vom Beginn des Maidan Ende 2013 bis zum Beginn des Krieges im Donbass im April 2014 behandeln. Diese – heute fast vergessenen – Ereignisse haben den Grundstein für den Krieg in der Ukraine gelegt und sind zum Verständnis dessen, was sich heute ereignet, unverzichtbar.

In diesem 13. Teil der 15-teiligen Serie geht es um den Weg zum Bürgerkrieg. Ich verzichte hier auf Quellen, in dem Buch sind alle Quellen angegeben.

Der Weg zum Bürgerkrieg

In diesem Kapitel soll auf die Reaktionen im Westen und in Kiew eingegangen werden, die es auf die Ereignisse auf der Krim und in der Südost-Ukraine gab und die sich parallel zu den Ereignissen auf der Krim und im Südosten der Ukraine abgespielt haben.

Am 13. März beschloss die Rada die Gründung einer Nationalgarde. Der Newsticker des „Focus“ meldete: „14.54 Uhr: Die neue Ukrainische Nationalgarde soll sich vor allem aus Freiwilligen der so genannten Selbstverteidigungsgruppen vom Maidan zusammensetzen und könnte der regulären 130.000 Mann starken Armee der Ukraine beistehen. Sie solle „die Sicherheit des Staates garantieren, die Grenzen verteidigen und Terrorgruppen ausschalten“ sagte der Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, Andrij Parubij. Insgesamt 262 Parlamentarier stimmten am Donnerstag für den Vorschlag.“

Die russische „Vesti“ berichtete ebenfalls am 13. März: „In der ukrainischen Armee laufen großangelegte Säuberungen. Es werden nicht-ukrainische Kommandanten entlassen und alle, an deren Loyalität die Maidan-Regierung zweifelt. Im Austausch kommt eine neue Machtstruktur: die Nationalgarde, zu der sich Kämpfer von ultranationalistischen Gruppen melden. Es geht schon ein Witz herum: Was für eine Garde die Westler auch gründen, es wird sowieso die SS-Division Galizien. Obwohl das eigentlich nicht lustig ist: Im Grunde ist das die Legalisierung der Extremisten, die sich nach dem Blutbad des Maidan nicht von ihren gestohlenen Waffen trennen wollen. … Es wäre richtiger, sie nicht Nationalgarde, sondern Nationalistengarde zu nennen. Die heutige Abstimmung kann man als endgültigen Sieg der Kämpfer des Maidan bezeichnen, denn de facto hat die Rada für ihre vollständige Legalisierung gestimmt. Dass sie zur Garde die rechten Kämpfer gerufen werden, hat am Abend der Abstimmung der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates und ehemalige Kommandant des Maidan Andrey Parubij mitgeteilt.“

In der Ausgabe 12/2014 schrieb der „Spiegel“ einen Artikel, der am 17. März auch im Internet erschien, wo man zur Nationalgarde lesen konnte: „Am Donnerstag beschloss das Parlament den Aufbau einer 60 000 Mann starken Nationalgarde. Über Facebook kündigte Innenminister Arsen Awakow an: „Wir werden die Garde in allernächster Zeit mobilisieren. Sie wird die Grenze schützen und die Ordnung im Land aufrechterhalten. Das ist unsere Antwort auf die Destabilisierung von außen.“ Weil auch Maidan-Kämpfer des radikalen „Rechten Sektors“ in die Garde aufgenommen werden sollen, höhnte das Moskauer Staatsfernsehen umgehend: „Man sollte die Truppe nicht Nationalgarde, sondern Nationalistengarde nennen. Das sind dieselben, die in Kiew auf Polizisten geschossen haben. Sie werden jeden Befehl befolgen, prorussische Demonstrationen in Charkiw und Donezk niederzuschlagen““

Dann wechselte der „Spiegel“ das Thema: „Wie leicht Moskaus Hilfstruppen eine Region ins Chaos stürzen können, zeigt der Fall Charkiw. In der zweitgrößten Stadt der Ukraine hatten sich Gegner der westlich orientierten Kiewer Regierung bereits im Februar zu einem prorussischen Kongress versammelt. Ihr Anführer war der damalige Gouverneur Michail Dobkin. Am selben Tag und unterstützt von rechtsradikalen Hooligans des örtlichen Fußballclubs besetzten seine Gegner, die Anhänger der Kiewer Maidan-Bewegung, zwei Etagen im Gouverneursgebäude, dem Verwaltungssitz der Region. Proeuropäische, freundliche Studenten mit Nickelbrillen waren darunter – aber auch viele Männer mit Schlagstöcken, Helmen, kugelsicheren Westen, einige mit Schusswaffen.“

Mich irritieren die Formulierungen in dem Artikel. Es wird geschrieben, wie „leicht Moskaus Hilfstruppen eine Region ins Chaos stürzen können“. Dabei war der „prorussische Kongress“ nichts anderes, als eine reguläre und lange geplante Parteiversammlung der „Partei der Regionen“, an der auch der damals noch im Amt befindliche Präsident teilnehmen wollte. Und als dann „rechtsradikale Hooligans des örtlichen Fußballklubs“ „die Anhänger der Maidan-Bewegung“ unterstützten und Gebäude besetzten, soll Russland – nach der Logik des „Spiegel“ – mit seinen „Hilfstruppen“ dafür verantwortlich gewesen sein, also verantwortlich für die Handlungen seiner Gegner, der „rechtsradikalen Hooligans“.

Weiter hieß es in dem Artikel: „Zudem tun die neuen Machthaber in Kiew wenig, um die russlandfreundlichen Gegner im Osten einzubinden. Als gäbe es keine anderen Probleme in ihrem vor dem Bankrott stehenden Land, brachten sie am zweiten Tag ihrer Regierung ein Gesetz ein, das Russisch als Amtssprache abschaffen sollte. Auch wenn Übergangspräsident Alexander Turtschynow es letztlich nicht unterzeichnet hat – der Schaden war angerichtet, viele Russen im Land fühlen sich bedroht. … Anfang März ließ sich Pawel Gubarew, Anführer der prorussischen Miliz „Volks-Landwehr Donbass“ bei einer Kundgebung gegen die Kiewer Regierung zum „Volksgouverneur“ ausrufen. Kurz vor seiner Verhaftung durch den ukrainischen Inlandsgeheimdienst traf Gubarew noch den SPIEGEL … Die Ermittlungen gegen Gubarew führt der Kiewer Generalstaatsanwalt, Mitglied der nationalistischen Partei Swoboda.“

Auch wenn manche die Formulierungen der russischen „Vesti“ und anderer russischen Medien, die die Nationalgarde als „SS-Division Galizien“ oder „Nationalistengarde“ bezeichnen, als übertrieben bezeichnen mögen, bestätigen die westlichen Medien im Kern die Kritik: Die Aufnahme der illegal bewaffneten rechtsradikalen Kämpfer von „Swoboda“, Rechtem Sektor und anderen. Es verwundert, dass dies in den westlichen Medien nicht beim Namen genannt wird. Man stelle sich zum Vergleich einmal vor, die rechtsnationale „Le Pen“ würde in Frankreich die Regierung übernehmen und zwei Wochen später Skinheads zu einer dritten bewaffneten Kraft in Frankreich machen, neben Polizei und Armee. Genau dies ist in der Ukraine geschehen. Und hier kommt auch die von mir in einem früheren Kapitel gemachte Aussage zum Tragen, dass man die Gründung der Nationalgarde und auch ihren Einsatz im Bürgerkrieg durchaus mit den Vorgängen in Deutschland 1933 vergleichen kann, als die illegal bewaffneten Schläger der SA kurzerhand zur „Hilfspolizei“ ernannt und damit legalisiert wurden.

In Deutschland muss die Bundeswehr – völlig zu Recht – aktive rechtsradikale Soldaten aus dem Dienst entlassen, trotzdem gab es von den westlichen Medien nur leise Kritik an der Nationalgarde und von der deutschen Regierung gar keine Kritik. Auch die Kommandeure der Nationalgarde rekrutierten sich aus den Reihen der rechtsnationalen und zum Teil sogar neonazistischen Bewegungen. Dass dies keine Übertreibung ist, werden wir später noch sehen, wenn wir einige Bataillone der Nationalgarde und ihre Kommandeure näher betrachten. Die Rolle der Nationalgarde in dem späteren Bürgerkrieg wird uns zwingen, uns dies genauer anzuschauen.

Es stellt sich weiterhin die Frage, wie die Nationalgarde von der de facto bankrotten Ukraine so schnell aufgerüstet werden konnte. Und die Nationalgarde wurde mit schweren Waffen ausgerüstet. Unter anderem besaß sie über 30 T-64 Panzer, fast 200 gepanzerte und bewaffnete Truppentransporter sowie Drohnen und Hubschrauber. Man muss davon ausgehen, dass sie auf Kosten der ukrainischen Armee und ihrer Bestände bewaffnet wurde. Bleibt die Frage, wie der Sold für 60.000 Kämpfer bezahlt werden sollte. Hier sprangen Oligarchen ein, in erster Linie Kolomojskyj, der einige Bataillone selbst finanzierte und sich so quasi seine Privatarmee schuf. Dazu werden wir später kommen, zu diesem Zeitpunkt gab es darüber noch keine sicheren Erkenntnisse, die kamen erst später.

Die Gründung der Nationalgarde war möglicherweise noch aus einem anderen Grunde als den genannten für die Regierung notwendig. Punkt 5 des Abkommens zwischen Janukowytsch und der Opposition sah vor, dass alle illegalen Waffen innerhalb von 24 Stunden abgegeben werden mussten und dass die Amnestie nach Ablauf der Frist nicht mehr galt. Die illegal Bewaffneten patrouillierten jedoch auch noch Tage und Wochen später im Kiewer Regierungsviertel, da die nationalistischen Kräfte um „Swoboda“ und Rechten Sektor die Abgabe der Waffen verweigerten. Die Regierung hatte also entweder kein Interesse an deren Entwaffnung oder konnte die Entwaffnung dieser Kräfte nicht gegen deren Widerstand durchsetzen. Somit war deren Aufnahme in die Nationalgarde ein möglicher Weg, diesen Punkt des Abkommens doch noch – wenn auch verspätet – einzuhalten und die illegale Bewaffnung auf diesem Wege zu legalisieren. Über eine Strafverfolgung der illegal bewaffneten Radikalen gibt es jedenfalls bis heute nicht einen Bericht, obwohl die illegale Bewaffnung nach Ablauf der Übergangsfrist, die in der schon zitierten Amnestie genannt war, eine Straftat darstellte. Überflüssig, daran zu erinnern, dass der für die Strafverfolgung zuständige Generalstaatsanwalt selbst der „Swoboda“ angehörte.

Ein weiteres Thema, auf das der „Spiegel“ in dem Artikel einging, war die Verhaftung von Michael Dobkin. Dies sollte später noch eine Rolle spielen, da er bei den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai als Kandidat der „Partei der Regionen“ und damit als einer der Gegner der neuen Kiewer Regierung antrat. Seine Verhaftung und sein späterer Hausarrest behinderten natürlich seinen Wahlkampf. Das spielte allerdings keine entscheidende Rolle, da Kandidaten aus dem Osten bei der Wahl ohnehin chancenlos waren, auch dazu später mehr.

Pawel Gubarew, über dessen Verhaftung der „Spiegel“ auch berichtet hatte, wurde am 7. Mai gegen einige ukrainische Offiziere ausgetauscht. Er spielte auch im weiteren Verlauf eine Rolle in der „Volksrepublik Donezk“, genau wie seine Frau Ekaterina, die stellvertretende Außenministerin der „Volksrepublik Donezk“ war.

Zur gleichen Zeit machten mögliche Sanktionen gegen Russland der deutschen Wirtschaft Sorgen, wie an vielen Stellen berichtet wurde, unter anderem am 15. März im Newsticker des „Focus“: „Samstag, 15. März, 08.23 Uhr: Der Vorsitzende des Bundestagswirtschaftsausschusses Peter Ramsauer (CSU) hat die Bundesregierung vor Strafaktionen gegen Russland gewarnt. „Wirtschaftssanktionen sind ein völlig ungeeignetes Element in der Außenpolitik“, sagte Ramsauer laut FOCUS-Informationen. Sanktionen des Westens und Gegenmaßnahmen Moskaus würden beide Seiten treffen. Zudem werde sich China an Wirtschaftssanktionen nicht beteiligen. „Insofern bleiben die Handelswege für Russland zum Weltmarkt offen“, sagte er. „Die Gelackmeiertsten wären wieder einmal wir Deutschen.““

Am 17. und 20. März reagierten die USA und die EU mit ersten Sanktionen als Antwort auf das Referendum auf der Krim. Diese Sanktionen beschränkten sich noch auf Einreisebeschränkungen und Vermögenssperren für Einzelpersonen. Russland erließ als Antwort ebenfalls einige Einreiseverbote für eine Reihe von Einzelpersonen aus den USA und Kanada, welches – genauso wie Norwegen – ebenfalls Sanktionen verhängt hatte. Der „Spiegel“ schrieb dazu am 17. März unter der Überschrift „EU-Sanktionen gegen Russland: Strafaktion mit Samthandschuhen“ und führte aus: „Politiker und Militärs dürfen nicht mehr einreisen, Konten werden eingefroren: Die EU reagiert auf das Krim-Referendum – doch ein echtes Durchgreifen sieht anders aus. Europa folgt der moderaten deutschen Linie. Putin soll noch Spielraum für diplomatische Lösungen bekommen.“

Ab dem 18. März begannen Überlegungen, Russland aus den G8 auszuschließen, wie man im Newsticker des „Focus“ lesen konnte: „13.21 Uhr: Der britische Premierminister Cameron bringt einen permanenten Ausschluss Russlands aus der Gruppe der G8-Staaten ins Gespräch. Sollte die russische Regierung in der Ukraine weitere Schritte unternehmen, müsse mit den Verbündeten darüber gesprochen werden, sagt er“

Nach dem Referendum auf der Krim gingen die bewaffneten pro-russischen Kräfte dort entschiedener gegen die verbliebenen ukrainischen Soldaten vor. Es wurden in den folgenden Tagen Schiffe, Kasernen und Stützpunkte gestürmt und so vollendete Tatsachen geschaffen. Dennoch gab es keine Kämpfe und Tote, es blieb schlimmstenfalls bei Warnschüssen in die Luft. Hierzu der „Spiegel“ am 19. März: „Russische Milizen haben nach Angaben der Kiewer Regierung eine weitere Militärbasis auf der Krim angegriffen. … Zuvor hatten die moskautreuen Milizen mit russischen Einheiten bereits das Hauptquartier der ukrainischen Marine in Sewastopol besetzt. Nach übereinstimmenden Medienberichten gab es keine Verletzte. Reuters meldet unter Berufung auf einen Sprecher der ukrainischen Marine, es seien keine Schüsse gefallen. Die russischen Krim-Soldaten seien nicht bewaffnet gewesen … Die russischen Milizen hätten die ukrainischen Offiziere herausgeleitet, berichtet das örtliche Internetportal „Sevastopol.su“ am Mittwoch. Die Nachrichtenagentur dpa meldet, nach mehr als 30 Soldaten hätten auch die Kommandeure den Stützpunkt verlassen. … Die russischen Milizionäre erklärten, sie hätten den Oberbefehlshaber vorübergehend festgenommen. Es gebe noch Fragen an Vizeadmiral Gajduk … Gajduk habe an den ukrainischen Stützpunkten den Befehl aus Kiew verbreiten lassen, Waffen zur Selbstverteidigung einzusetzen. Der Chef der russischen Schwarzmeerflotte, Alexander Witko, forderte die ukrainischen Truppen auf der Halbinsel auf, diesen Befehl nicht umzusetzen.“

Die ukrainischen Soldaten kamen der Aufforderung der Russen nach und ignorierten die wiederholten Befehle aus Kiew, von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Um nicht jede Einzelheit zu dem Schießbefehl der ukrainischen Armee zu thematisieren, hier eine exemplarische Meldung aus dem Newsticker des „Focus“ vom 22. März dazu: „17.00 Uhr: Die ukrainischen Kriegsschiffe auf der Krim haben einen Schießbefehl, den sie aber bisher nicht befolgten. Das erklärt der ukrainische Verteidigungsminister Igor Tenjuch. „Die Lage auf der Krim ist komplex“ sagt er in Kiew nach einer Kabinettssitzung. Russland sei es „trotz des Befehls an alle Kommandanten, Waffen einzusetzen“ gelungen, die Schiffe zu übernehmen. „Bedauerlicherweise“ hätten die Kapitäne selbst vor Ort über ihr Vorgehen entschieden, „Um ein Blutvergießen zu vermeiden.““

Die Formulierung gibt zu denken: „Bedauerlicherweise“ hätten die Kapitäne vor so Ort entschieden „um ein Blutvergießen zu vermeiden“. Ob das Verhindern von Blutvergießen bedauerlich sein soll, mag Ansichtssache sein. Wir erinnern uns daran, dass der Verteidigungsminister Tenjuch von der „Swoboda“ war (siehe Zusammensetzung der Übergangsregierung). Dass es etwas Bedauerliches ist, ein Blutvergießen zu vermeiden, ist in meinen Augen jedenfalls eine sehr fragwürdige Einstellung, zumal es für die ukrainischen Soldaten keine Chance gab, einen Kampf zu gewinnen. Es war im Grunde der Befehl zu Selbstmordkommandos ohne militärischen Sinn.

Am 20. März befasste sich Benjamin Bidder vom „Spiegel“ wieder mit der Ukraine und der „Swoboda“. Unter dem Titel „Ukrainischer Nationalist Miroschnytschenko: Putins liebster Feind“ schrieb er: „Igor Miroschnytschenko prügelt Journalisten, hetzt gegen Juden – und sitzt als Abgeordneter im ukrainischen Parlament. Der Nationalist liefert genau den Stoff, den die Kreml-Propaganda braucht, um die Maidan-Revolution zu verunglimpfen.… Der Swoboda-Funktionär sitzt im Medienausschuss des Parlaments, hat aber ein zweifelhaftes Verständnis von Pressefreiheit. Weil am Dienstag der Sender „Erster Nationaler Kanal“ die Rede von Kreml-Chef Wladimir Putin übertrug samt anschließender Annexion der Krim, stürmte ein Partei-Kommando kurzerhand die Büros des Fernsehsenders, angeführt von Igor Miroschnytschenko. Er schlug, schubste und würgte den Chefredakteur, der wenig später seine Demission unterschrieb, natürlich gänzlich „freiwillig“. … Vor einem Jahr mischte Miroschnytschenko sich in eine Debatte über die Wurzeln der in der Ukraine geborenen US-Schauspielerin Mila Kunis ein. Sie sei gar keine Ukrainerin, sondern eine „Jiddin“ schrieb er. Auf Ukrainisch klingt das nicht weniger antisemitisch als auf Deutsch … Einem Mann spielt das ganz besonders in die Hände: Putin.“

Anstatt das Problem der Regierungsbeteiligung von Parteien wie der „Swoboda“ mit Vertretern wie Miroschnytschenko zu kritisieren, wurde dies in dem Artikel verteidigt: „Weil sie Wiktor Janukowitsch sonst kaum hätten stürzen können, ließen sich die Demokraten auf ein Bündnis mit den schlagkräftigen Nationalisten ein. Die sitzen nun mit am Kabinettstisch“

Gerade so, als sei der – wir erinnern uns – demokratisch gewählte Janukowitsch das kleinere Übel im Vergleich mit Nationalisten, Antisemiten und Neonazis. Aber anstatt dieses Problem offensiv zu thematisieren, wurde all dies vor dem Hintergrund geschrieben, dass Russland diese Dinge thematisierte und diese Kräfte als „faschistisch“ bezeichnete. Ob eventuell anders herum ein Schuh daraus wird? Ob nämlich die Ereignisse in Kiew Russland erst den Grund lieferten, so zu berichten und ob man im Westen gegen die Regierungsbeteiligung der „Swoboda“ hätte protestieren müssen? Die Fragen wurden nicht aufgeworfen. De facto warf Herr Bidder Russland vor, Nationalisten und Antisemiten als das zu bezeichnen, was sie sind.

Am 20. März kommentierte Katharina Graca Peters im „Spiegel“ Umfragen, die die Skepsis der Deutschen in Bezug auf den Kurs der westlichen Politik thematisierten. Unter dem Titel: „Umfragen zur Krim-Krise: Deutsche zweifeln an Sanktions-Strategie“ schrieb sie: „Russland als Aggressor auf der Krim, der mit Sanktionen bestraft werden muss? Viele Deutsche sehen das anders. Umfragen zufolge fürchten sie Schaden für die Wirtschaft – und machen den Westen für die Krise mitverantwortlich. … EU und USA beraten in den kommenden Tagen über härtere Sanktionen. Aber die Deutschen wünschen sich offensichtlich deutlich mehr Zurückhaltung gegenüber Russland, glauben an den Erfolg der Diplomatie. 44 Prozent der Befragten plädierten im letzten Politbarometer dafür, mit diplomatischen Mitteln auf Russland einzuwirken. Nur ein Viertel unterstützt wirtschaftliche Strafmaßnahmen … Die Deutschen mögen keine bedingungslosen Russland-Versteher sein, aber sie haben in der Krim-Krise offenbar oft eine andere Meinung als Medienvertreter und Politiker. „Ihrer Ansicht nach tragen mehrere Parteien die Schuld an der Eskalation: nicht nur Russland, sondern auch die neue ukrainische Regierung, die EU und die USA“ so Forsa-Chef Güllner. … Den traditionellen Verbündeten in Washington begegnen die Deutschen allerdings ebenfalls mit viel Skepsis. Ein Argument, das jetzt oft zu hören ist: Die USA hätten selbst das Völkerrecht gebrochen, wie schlimm kann es sein, wenn Russland das auch tut.“

Am 21. März fiel die Entscheidung, OSZE Beobachter in die Ukraine zu entsenden. Darüber berichtete zum Beispiel der „Spiegel“: „Die Beobachtermission soll unparteiisch Informationen über die Sicherheitslage und den Schutz von Minderheiten in der Ukraine sammeln. Anfangs werden ihr rund hundert Experten angehören, es können aber laut Beschluss bis zu 500 Experten entsandt werden. Deutschland hatte in Aussicht gestellt, sich mit bis zu 20 Fachleuten zu beteiligen. Die ersten Beobachter werden innerhalb von 24 Stunden – also am Samstag – in der Ukraine erwartet.“

Ebenfalls am 21. März wurde der politische Teil des Assoziierungsabkommens mit der EU unterschrieben. Der „Spiegel“ dazu: „Unterschrieben wurde der politische Teil des Abkommens. Darin verpflichtet sich die Ukraine unter anderem zur Respektierung der Menschenrechte, der freien Marktwirtschaft und zur engen Kooperation mit Europa. Der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk war für die Unterzeichnung nach Brüssel gekommen. Er zeigte sich erleichtert: „Diese Übereinkunft entspricht den Erwartungen von Millionen Ukrainern, die Teil der EU sein wollen.“ Die damit verbundene Zusammenarbeit in Sicherheits- und Verteidigungsfragen sei von „höchster existenzieller“ Bedeutung.“

Wenn man sich vor Augen führt, dass die EU die Unterzeichnung noch im November in Frage gestellt hatte und dies mit demokratischen und rechtsstaatlichen Defiziten der Ukraine begründet hatte, dann muss man sich fragen, warum die Ukraine nun demokratisch und rechtsstaatlich genug war, um zu unterschreiben. Die Regierung war keinen Monat zuvor auf – diplomatisch ausgedrückt -fragwürdige Art ins Amt gekommen, die Verfassung der Ukraine wurde bei der Absetzung Janukowytschs objektiv gebrochen, in Kiew gab es immer noch unkontrollierte, illegal bewaffnete Kräfte, eine Regierungspartei war offen rechtsradikal und antisemitisch, wie die EU und die deutsche Bundesregierung vor dem Maidan mitgeteilt hatten. An welchen demokratischen und rechtsstaatlichen Maßstäben war diese Regierung, mit der nun ein Teil des Abkommens unterschrieben wurde, gemessen worden? Vor diesem Hintergrund scheint es, als könnten Kommentatoren wie Herr Klußmann, die behaupteten, es gehe nicht um Demokratie, sondern um geopolitische Aspekte, durchaus Recht haben. Wäre es um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegangen, hätten eigentlich weitere Gesetzesänderungen und Neuwahlen abgewartet werden müssen, anstatt das Abkommen in höchster Eile zu unterschrieben.

Dass die Bundesregierung und die EU erhebliche Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der Ukraine hatten, zeigen exemplarisch zwei Meldungen, die erst Wochen später zu lesen waren. Erstens schrieb der „Focus“ am 24. April im Newsticker: „20.00 Uhr: Brüssel prüft die Entsendung einer EU-Mission in die Ukraine, berichtet „Die Welt“. Sie könne bei der Sicherung der ukrainischen Grenze helfen, aber auch die Ausbildung eines funktionierenden Rechtsstaats in dem Land beratend unterstützen.“

Damit gestand die Bundesregierung indirekt ein, dass es in der Ukraine zu diesem Zeitpunkt keinen „funktionierenden Rechtsstaat“ gab. Damit wäre die Ukraine wohl der erste Staat, der sich mit der EU assoziieren durfte, aber laut dieser Aussage der Bundesregierung noch kein funktionierender Rechtsstaat war. Außerdem veröffentlichte die Bundesregierung selbst am 17. September eine Pressemeldung: „Die Bundesregierung hat beschlossen, bis zu 20 deutsche Polizeivollzugsbeamte an der zivilen EU-Mission EUAM zu beteiligen. Sie sollen die ukrainische Regierung bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Reform des Sicherheitssektors beraten.“

Am Abend des 23. März verkündeten die westlichen Regierungschefs, dass sie dem G8-Gipfel in Sotchi, der für den Sommer geplant war, fernbleiben wollten, wie der Newsticker des „Focus“ meldete: „20.23 Uhr: Der G8-Gipfel in Sotchi im Juni findet nicht statt. Stattdessen werden sich die Staats- und Regierungschefs der sieben führenden Industrienationen im Juni ohne Russland in Brüssel treffen, beschließt die Runde in Den Haag nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur.“

Am 24. März gab die Ukraine ihren Widerstand gegen die Räumung ihrer Stützpunkte auf der Krim auf, wie man Newsticker des „Focus“ lesen konnte: „10.14 Uhr: Die ukrainischen Truppen auf der Krim sollen sich nach Worten des Übergangspräsidenten Alexander Turtschynow von der Halbinsel zurückziehen. Dies habe das Verteidigungsministerium angeordnet.“

Am 25. März wurde bei youtube ein abgehörtes Telefonat zwischen Julia Timoschenko und Nestor Schufritsch, einem Vertrauten, veröffentlicht. Hierzu schrieb der „Tagesspiegel“ unter dem Titel: „Timoschenko: Verdammte russische Hunde erschießen“ und führte aus: „In dem … abgehörten Gespräch mit dem früheren Vizechef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Nestor Schufritsch, soll die Politikerin der Vaterlandspartei unter anderem erklärt haben: „Ich würde all meine Beziehungen geltend machen, und die ganze Welt erheben lassen, damit von Russland nur ausgebrannter Boden übrig bleibt.“ Sie sei bereit, „eine Maschinenpistole in die Hand zu nehmen … um diese Hunde samt ihres Anführers kalt zu machen“ Den russischen Präsidenten Wladimir Putin erwähnt sie nicht namentlich – die Anspielung dürfte auch so klar sein. Timoschenko bezog auf Twitter Stellung zum dem Telefonat. Demnach hat das Gespräch mit Schufritsch, einem langjährigen Weggefährten von Timoschenko, tatsächlich stattgefunden. Die veröffentlichte Fassung wurde nach ihren Angaben aber in einer zentralen Passage manipuliert. Dort geht es um die Frage, wie man mit den „acht Millionen Russen auf dem Territorium der Ukraine“ umgehen sollte. Timoschenko habe dazu, so russische Medien, erklärt, gegen diese könne man nur mit Atomwaffen vorgehen. Timoschenko nennt diesen Teil des Gesprächs „eine Montage“ Sie versichert: „Tatsächlich habe ich gesagt: Die Russen in der Ukraine sind auch Ukrainer.“ Dass sie Putin mit der Waffe „fertig machen“ wolle, dementierte sie nicht.“

Zwei Dinge sind hier interessant: Erstens die Ausrede von Timoschenko, denn wer das Gespräch im Original – also auf Russisch – versteht, der hört, wie emotional und aufgebracht sie war. Und wer das Gespräch – selbst mit den Untertiteln auf youtube – hört und liest, der kann mal versuchen, die entsprechende Passage mit den Atomwaffen gegen „Die Russen in der Ukraine sind auch Ukrainer“ auszutauschen und sehen, wie das zu dem Rest des Gespräches passt, sowohl im Tonfall als auch in der Wortwahl.

Zweitens sind die Formulierungen der Zeitung interessant. Sie zitierte weitgehend aus dem Gespräch, es muss ihr also vorgelegen haben, was nicht verwunderlich ist, es war und ist ja auf youtube verfügbar. In dem Gespräch war die Passage, in der Timoschenko gegen die „acht Millionen Russen auf dem Territorium der Ukraine“ mit Atomwaffen vorgehen“ wollte enthalten. Bei diesem Teil berief sich der „Tagesspiegel“ jedoch aus unerfindlichen Gründen auf „russische Medien“, ganz so als hätten die es behauptet und der „Tagesspiegel“ könnte dies nicht selbst in dem Gespräch gehört und in den Untertiteln gelesen haben.

Interessant ist die Berichterstattung der „Tagesschau“ an dem Tag. Dass Timoschenko gegen die ukrainischen Russen Atomwaffen einsetzen wollte, wurde nicht berichtet, aber es wurde berichtet, dass sie Putin in den Kopf schießen und aus Russland verbrannte Erde machen wollte. Anschließend durfte der Korrespondent aus Kiew die Situation beurteilen und vermutete dahinter ein Wahlkampfmanöver. Das kann man natürlich nicht ausschließen, allerdings macht man Wahlkampf normalerweise mit öffentlichen Auftritten und nicht mit vertraulichen Telefonaten. Und dass dieses Gespräch abgehört und dann veröffentlicht wurde, konnte Timoschenko vorher nicht wissen. Es stellt sich die Frage, wie der Korrespondent zu der Einschätzung kommen konnte, dies könne ein Wahlkampfmanöver sein. An dieser Stelle frage ich mich erneut, welchen informativen Mehrwert die Korrespondenten vor Ort in solchen Fällen haben.

Am 26. März veröffentlicht die „Zeit“ unter der Überschrift „Helmut Schmidt hat Verständnis für Putins Krim-Politik“ Auszüge aus einem Interview mit Helmut Schmidt: „Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt kann das Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der Krim gut nachvollziehen. Es sei „durchaus verständlich“ sagte Schmidt der Wochenzeitung DIE ZEIT, deren Herausgeber er ist. Dagegen kritisierte er das Verhalten des Westens im Krim-Konflikt mit scharfen Worten. Die von der Europäischen Union und den USA beschlossenen Sanktionen gegen Russland seien „dummes Zeug“ Weiter gehende wirtschaftliche Sanktionen würden ihr Ziel verfehlen. Auch sie hätten vor allem symbolische Bedeutung, „aber sie treffen den Westen genauso wie die Russen“ sagte Schmidt. Für falsch hält Schmidt auch den Beschluss des Westens, die Zusammenarbeit mit Russland im Rahmen der G 8 einzustellen. „Es wäre ideal, sich jetzt zusammenzusetzen. Es wäre jedenfalls dem Frieden bekömmlicher als das Androhen von Sanktionen““

Der Kommentar von Helmut Schmidt war insofern bemerkenswert, weil er den Rauswurf Russlands aus den G8 thematisierte. Der Westen – und vor allem die Bundesregierung – haben immer wieder gesagt, sie man wolle mit Russland reden und dürfe „den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen“. Wie man jedoch miteinander reden möchte, wenn man Russland aus den meisten Gesprächsrunden auslädt, ist ein Rätsel. Die G8 waren – wie wir noch sehen werden – nur der Anfang. Später sagte Deutschland noch viele Gesprächsrunden ab, wie z.B. routinemäßige Regierungskonsultationen, den Petersburger Dialog etc.

Am nächsten Tag kritisierte Nikolaus Blome in einem Kommentar im „Spiegel“ Schmidts Äußerungen scharf. Unter dem Titel: „Schmidt und Putins Ukraine-Kurs: Der Altkanzler macht es sich bequem“ führte er aus: „Helmut Schmidt versteht nicht, warum man sich über die Annexion der Krim aufregen soll. Er hat Verständnis für den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Das ist mehr als eine Sprachverwirrung. Es war wohl unvermeidlich. Altkanzler Helmut Schmidt hat sich in Sachen Russland, Krim und Kalter Krieg zu Wort gemeldet. Und man kann sagen: Er hätte es besser gelassen. Das wird bereits in den ersten Antworten in seinem „Zeit“-Interview klar. Ob es einen Zweifel gebe, dass die Annexion der Krim durch Russland ein Bruch des Völkerrechts sei, lautet die Frage. Und Schmidt antwortet, ja er habe erhebliche Zweifel … Wer aber von vorneherein „Verständnis“ für Russlands Expansion bezeugt, stellt sich diesem Problem erst gar nicht, der hat es gleichsam abgehakt und darf also zur Tagesordnung übergehen. Krim? War da was? Das ist sehr bequem – und ziemlich billig für einen ansonsten gern bewunderten Altkanzler.“

Ein weiteres Thema, das uns von nun an während der ganzen Krise begleiten wird, waren die Meldungen aus Kiew und von der Nato über russische Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze. Kiew und die Nato haben manchmal mehrmals wöchentlich über Truppenbewegungen berichtet und es ständig so formuliert, als stünde eine russische Invasion unmittelbar bevor. Ich werde nur auf Meldungen eingehen, die dabei aus verschiedenen Gründen bemerkenswert sind. Über jede dieser Meldung zu schreiben, würde sehr eintönig werden. Am 26. März meldete der „Focus“ Newsticker hierzu: „16.35 Uhr: Russland zieht nach Angaben eines ranghohen ukrainischen Regierungsvertreters „fast 100.000 Soldaten“ an der Ostgrenze der Ukraine zusammen. „Russische Truppen sind nicht nur auf der Krim, sie sind überall entlang der ukrainischen Grenzen“, sagt der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine, Andrij Parubij, bei einer Videokonferenz an einem Politikinstitut in Washington. Die USA gehen allerdings von einer deutlich geringeren Truppenstärke aus, in Verteidigungskreisen in Washington ist von eher 20.000 russischen Soldaten an der Grenze zur Ukraine die Rede.“

Die Meldung von Andrij Parubij über 100.000 Soldaten war dabei einmalig, so hohe Zahlen wurden sonst nie gemeldet. Der „Spiegel“ berichtete einen Tag später unter der Überschrift: „Krim-Krise: Moskau verstärkt Truppen an der Grenze zur Ukraine“ über die Truppenbewegungen: „Russland hat seine Armeeeinheiten an der Grenze zur Ukraine weiter verstärkt. Es werde davon ausgegangen, dass mehr als 30.000 russische Soldaten dorthin verlegt worden seien, verlautete aus europäischen und US-Sicherheitskreisen. In der vergangenen Woche hatte die Zahl laut Medienberichten noch bei 20.000 Mann gelegen. Unter den an die Westgrenze Russlands verlegten Truppen seien Spezialeinheiten und Milizen mit Uniformen ohne Hoheitsabzeichen, hieß in westlichen Sicherheitskreisen.“

Interessant ist, dass niemand in der westlichen Presse eine Frage stellte: Würde nicht jedes Land seine Truppen an der Grenze zu einem Nachbarland verstärken, wenn dort derartige Unruhen herrschen? Man konnte die Truppen natürlich auch als Bedrohung und Botschaft an die Ukraine verstehen. Zu objektiver Berichterstattung müsste es aber doch gehören, diese Frage zumindest zu stellen, man kann sie dann ja beantworten und kommentieren. Zumal die Nato in der Folge ebenfalls ihre Truppen an ihren Ostgrenzen verstärkt hat, warum also sollte Russland dies nicht tun?

In der Folgezeit hat es – wie gesagt – oft mehrmals wöchentlich Meldungen über Truppenbewegungen oder Verstärkungen der russischen Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze gegeben. Jedoch wurde dabei in der Folge maximal von 40.000 Soldaten gesprochen. Wie viele Soldaten dort ohnehin routinemäßig stationiert sind, weiß ich nicht. Jedoch konnte ich mich eines gewissen Schmunzelns nicht erwehren, als Kiew, die USA und die Nato in den folgenden Monaten immer wieder von einer Verstärkung der Truppen sprechen und dabei nie mehr als 40.000 Soldaten erwähnt wurden, also quasi eine Verstärkung von 40.000 auf 40.000.

Am 27. März veröffentlichte der „Spiegel“ einen Artikel unter der Überschrift: „Putin-Propagandist zur Ukraine-Krise: „Lieber Krieg als Kapitulation““. Schon die Überschrift reihte sich mittlerweile nahtlos ein in die neue Tonart der Berichterstattung. Alles, was aus Russland kam wurde als „Putin-Propaganda“ bezeichnet. Kommentatoren, die die Position Russlands zu verstehen oder auch bloß zu erklären versuchten, wurden als „Putin-Versteher“ bezeichnet. In dem Artikel schrieb der „Spiegel“: „Der Satz der Bundeskanzlerin, Wladimir Putin lebe in einer anderen Welt, hat in Moskau eine ebenso scharfe wie zynische Retourkutsche hervorgerufen. … Sergej Markow, ehemals Abgeordneter der Putin-Partei Einiges Russland und wortgewaltiges Sprachrohr des Kreml, veröffentlichte jetzt in Moskauer Zeitungen zwei Artikel, in denen er umgekehrt Merkel und dem Westen Realitätsverlust vorhält. … Merkels angeblichen Realitätsverlust beschreibt er als Weigerung, „die russische Realität“ zu verstehen. Diese sieht nach Markow so aus: Die „Junta in Kiew“ habe mit Wiktor Janukowitsch einen demokratisch gewählten Präsidenten gestürzt und mit Dmitrij Jarosch und Oleg Tjahnybok Politiker in die Regierung aufgenommen, die Neo-Nazis vom „Rechten Sektor“ und bewaffnete Milizen der Partei „Swoboda“ kontrollierten. … Die Ukraine habe keine souveräne Regierung, weil diese hinter den Kulissen von Amerika ernannt worden sei, wie ein abgehörtes Telefonat zwischen dem Kiewer US-Botschafter und der stellvertretenden Außenministerin, Victoria Nuland, zeige. … In Russlands Wahrnehmung haben die Proteste auf dem Maidan und der darauffolgende Umsturz nicht zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geführt, sondern zu Unrecht und Gewalt. In seinem zeitgleich in der populären Boulevardzeitung „Komsomolskaja Prawda“ veröffentlichten Artikel fordert Markow, sich doch bitte eine Liste der Staaten anzuschauen, in denen „Amerika in den vergangenen 15 Jahren gewonnen“ habe. „Im Irak, in Afghanistan, Georgien, der Ukraine, Libyen und Ägypten herrscht keine Demokratie, sondern Chaos“ polemisiert der Putin-Propagandist.“

Die Feststellung, dass im Irak, in Afghanistan, Georgien, der Ukraine, Libyen und Ägypten Chaos herrschte, als Polemik zu bezeichnen ist unverständlich, schließlich entsprach es zu dem Zeitpunkt der Wahrheit. Und in vielen der genannten Länder hat sich daran bis heute nichts geändert, im Gegenteil. Und Tatsache ist, dass dieses Chaos in den Ländern entstand, nachdem der Westen dort entweder Revolutionen unterstützt hatte oder nachdem die USA z.B. im Irak einmarschiert waren. Ich will hier ausdrücklich nicht Diktatoren wie Saddam oder Gaddafi verteidigen, Fakt ist aber, dass die Situation in den genannten Ländern nicht besser, sondern schlechter wurde, nachdem die Diktatoren beseitigt waren. Es fehlte dem Westen in all diesen Ländern ein Plan, wie es nach dem Sturz der Despoten weitergehen sollte. Und so herrschte nach dem Sturz der Diktatoren im Irak, Libyen und Ägypten Chaos und zum Teil Bürgerkrieg. Ob das besser ist, als das Leben der Menschen dort vorher, kann man durchaus hinterfragen. Dass die Regierungsbeteiligung der „Swoboda“ auch in diesem Artikel wieder verharmlost wurde und es als russische Propaganda bezeichnet wurde, wenn Russland diese Partei als das bezeichnete, als was sie vor der Krise auch EU und Bundesregierung bezeichnet haben, sei nur der Vollständigkeit halber auch hier wieder erwähnt.

Die Wirtschaft machte sich mittlerweile Sorgen um die Folgen möglicher Sanktionen. Der Newsticker des „Focus“ meldete am 28. März zum Beispiel: „02.20 Uhr: Eckhard Cordes, Vorsitzender des Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, wandte sich erneut strikt gegen weitere Wirtschaftssanktionen gegen Russland. „Niemand will sie, sie wären eine Belastung für die gesamte europäische Wirtschaft. Deutschland wäre betroffen, weil wir innerhalb der EU den intensivsten Handel mit Russland haben“ betonte er. Allein die 30 deutschen Dax-Unternehmen würden in Russland rund 45.000 Mitarbeiter beschäftigen, hinzu kämen unzählige mittelständische Betriebe mit Produktion in Russland. In Deutschland sichere der Handel mit Russland 350.000 Arbeitsplätze.“

Einer der seltenen Fälle, wo sich führende westliche Politiker kritisch zu den Zuständen in Kiew äußerten, fand man im Newsticker des „Focus“ vom 29. März: „09.21 Uhr: Die EU macht sich wegen der Proteste nationalistischer Kräfte in der krisengeschüttelten Ukraine Sorgen. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton warnt vor einer Einschüchterung des Parlaments in Kiew. Anhänger der ultranationalistischen Partei Rechter Sektor hatten vor der Volksvertretung den Rücktritt von Innenminister Arsen Awakow gefordert. „Ich rufe den Rechten Sektor und andere Parteien in der Ukraine auf, weder mit Gewalt zu drohen noch diese anzuwenden“ teilt Ashton in einer Erklärung mit. Die Parteien müssten ungenehmigte Waffen sofort abgeben.“

Leider fand sich diese Sorge von Ashton nicht in den Schlagzeilen, sondern bestenfalls in Nebensätzen von Artikeln. Und Folgen hatte die Erklärung Ashtons auch keine, die Waffen wurden nicht abgegeben.

Die „Bild“ meldete am gleichen Tag, dass Klitschko nicht als Präsidentschaftskandidat bei der Wahl antreten, sondern Petr Poroschenko unterstützen wollte. Er forderte Timoschenko auf, das gleiche zu tun. Diese hielt jedoch an ihrer eigenen Kandidatur fest.

Der russische Außenminister Lawrow forderte in diesen Tagen, dass die Ukraine Russisch als zweite Amtssprache zulassen und in einer Verfassungsreform eine föderale Struktur bekommen sollte. Das ukrainische Außenministerium antwortete darauf mit einer Stellungnahme: „Der Aggressor mit seinen Maschinengewehren will nur eins: die bedingungslose Kapitulation der Ukraine, ihre Teilung und die Zerstörung ihrer Staatlichkeit. … Warum gibt Russland seinen Regionen nicht mehr Souveränität, sondern unterdrückt seine Minderheiten noch genauso, wie zu Zeiten der Zaren? Warum führt Russland keine weiteren Amtssprachen, einschließlich Ukrainisch ein?“

In dieser Tonart ging es weiter. Dies waren sicher keine diplomatischen Formulierungen, wie sie für ein Außenministerium angemessen waren. Man kann sich vorstellen, dass bei derartigen verbalen Angriffen kaum konstruktive Gespräche stattfinden konnten.

Aber abgesehen davon ignorierte die Ukraine hierbei, dass es in Russland insgesamt 38 regionale Amtssprachen gab, darunter auch Ukrainisch. Die Aussage des ukrainischen Außenministeriums war also auch in der Sache unwahr.

Dennoch war und ist die Situation in Russland eine andere, als in der Ukraine, wo der Anteil der ukrainischen Muttersprachler nur geringfügig höher ist, als der der russischen Muttersprachler. In so einem Fall wären zwei landesweit gültige Amtssprachen sicher sinnvoll, wie die Beispiele Belgien oder Schweiz aufzeigen, während wir es in dem Vielvölkerstaat Russland mit regionalen Minderheiten zu tun haben, die aber alle ihre Amtssprachen haben. Jedenfalls scheint die Abwehrhaltung der ukrainischen Regierung gegen eine landesweite zweite Amtssprache mit rationalen Gründen nicht erklärbar.

Am 31. März brachte die „Huffington Post“ einen Artikel, der ab und an später zitiert wurde, weshalb ich hier darauf eingehe. Unter der Überschrift: „Ex-Berater warnt: Putin will auch in Weißrussland, die baltischen Staaten und Finnland einmarschieren“ wurde über ein Interview in einer schwedischen Zeitung berichtet: „Auch in Weißrussland, die baltischen Staaten und Finnland will Putin einmarschieren – zu dieser gewagten Einschätzung kommt zumindest der ehemalige Chefberater der russischen Regierung für wirtschaftliche Fragen, Andrej Illarionov, in einem Interview mit dem schwedischen Svenska Dagbladet. Illarionov stand Putin zwischen 2000 und 2005 zur Seite und ist nun Mitglied des Cato Institut, einem liberalen Think Tank in Washington.“

Man beachte dabei, dass sich Illarionov schon 2005 mit Putin überworfen hatte und seit 2006 in Washington für das Cato-Institut arbeitete. Woher also ein Mann, der seit neun Jahren nicht mehr in Moskau arbeitete, diese Informationen haben wollte, blieb unklar. Jedenfalls wurde nicht ausgeführt, woher er seine Informationen bezog, stattdessen erzählte er im weiteren Verlauf von Gebietsansprüchen gegen Weißrussland, Ukraine, Georgien, die baltischen Staaten und sogar Finnland.

Ein weiteres Thema, was damals kurz für Unruhe sorgte, waren Äußerungen von Wolfgang Schäuble, von denen der Newsticker des „Focus“ als erster berichtete: „13.13 Uhr: Das Vorgehen Russlands in der Ukraine erinnert Wolfgang Schäuble an den Expansionsdrang Nazi-Deutschlands. „Das kennen wir alles aus der Geschichte. Solche Methoden hat schon der Hitler im Sudetenland übernommen – und vieles andere mehr“, zog der Minister bei einer Veranstaltung mit Berliner Schülern Parallelen zwischen der heutigen Lage der Ukraine und der 1938 von Nazi-Deutschland teilweise annektierten Tschechoslowakei“

In der Folge gab es einige Diskussionen über diesen Hitler-Vergleich. Insgesamt blieb das, abgesehen von der Einbestellung des deutschen Botschafters in Moskau jedoch weitgehend ohne Folgen. Hier ist eine gewisse Veränderung in der Wahrnehmung zu beobachten: Als Kohl in den 1980ern Gorbatschow mit Goebbels verglichen hatte, sorgte das für großen Aufruhr. Anscheinend sind Hitler-Vergleiche in Deutschland und international mittlerweile fast salonfähig geworden.

Die schon erwähnten Absagen westlicher Politiker an Gesprächsrunden mit Russland fanden an diesem Tag ein weiteres Beispiel. Auch hierzu der Newsticker des Focus vom 31. März: „15.30 Uhr: Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise hat Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) seine Teilnahme an der Deutsch-Russischen Rohstoff-Konferenz in Dresden abgesagt. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes in Berlin machte Termingründe dafür verantwortlich. Ursprünglich sollte Steinmeier am Mittwochabend zu den rund 340 Teilnehmern der Konferenz sprechen. Der russische Vizeministerpräsident Arkadi Dworkowitsch und Gazprom-Vorstandschef Alexej Miller werden in Dresden erwartet.“

Das Treffen wäre eigentlich eine gute Gelegenheit gewesen, mit führenden Vertretern Russlands über die Krise zu sprechen, sie wurde jedoch nicht wahrgenommen.

Dass in dieser Situation der Vorstandsvorsitzende von Siemens nach Moskau gereist ist und Putin getroffen hat, wurde von den Medien kritisiert. Im „heute-journal“ ging Claus Kleber den Siemens-Chef hart an. Im „Spiegel“ schrieb Jakob Augstein dazu: „Im „heute journal“ zeigte Anchorman Claus Kleber, wie man den Regierungsauftrag erfüllt, ohne ihn bekommen zu haben. Er verhörte den Siemens-Chef Joe Kaeser, der eine lange geplante Reise nach Moskau auch tatsächlich angetreten hatte. Der Mann hat allen Grund dazu: Siemens hat in Russland 800 Millionen Euro investiert und wird auch weiterhin mit der russischen Eisenbahn Geschäfte machen – obwohl deren Chef auf einer amerikanischen Sanktionsliste steht. „Und Sie haben mit dem geredet!“ fauchte Kleber, „als Repräsentant eines Unternehmens, das auch für Deutschland steht“ Entgeistert stellte Frank Schirrmacher danach fest, dass sich hier der Journalismus selbst in Politik verwandelt und das Fernsehstudio zu einem Ort wird, wo es der Interviewer ist, der außenpolitische Bulletins abgibt. Schirrmacher: „Claus Kleber zeigt der deutschen Wirtschaft die rote Linie auf““

Am 1. April suspendierte die Nato die Zusammenarbeit mit Russland: Auch hierzu der Newsticker des „Focus“: „17.14 Uhr: Die Nato legt die zivile und militärische Zusammenarbeit mit Russland auf Eis. Das teilt die Allianz mit. Dagegen solle die Zusammenarbeit mit der Ukraine verstärkt werden.“

Eine weitere Meldung im Newsticker dieses Tages machte den Unterschied in der Wortwahl zwischen Ost und West deutlich: „09.57 Uhr: Der russische Vizeministerpräsident Arkadi Dworkowitsch unterstreicht die Bedeutung der deutsch-russischen Beziehungen. „Die Tatsache, dass ich heute hier bin, spricht dafür, wie die Beziehung in Russland eingeschätzt wird“ sagt Dworkowitsch bei der Deutsch-Russischen Rohstoff-Konferenz in Dresden. Er könne verstehen, dass die deutsche Regierung derzeit eine Art „Pause“ im Verhältnis eingelegt habe, sagte er, ohne direkt auf die Ukraine-Krise einzugehen. Aber die russische Regierung sei jederzeit bereit, die Gespräche fortzuführen. In den wirtschaftlichen Beziehungen dürfe man sich aber keine Pause erlauben, sagte Dworkowitsch. „Sie haben direkten Einfluss auf das Leben, das die Menschen in unseren Ländern führen.““

Während der Westen Gesprächsrunden absagte und sogar Hitler-Vergleiche gezogen wurden, vor Wolfgang Schäuble hatte auch Hillary Clinton sich bereits so geäußert, blieben die russischen Antworten meist sachlich. Und obwohl keine führenden Vertreter der Bundesregierung bei der Rohstoff-Konferenz anwesend waren, ist der russische Vizepremierminister angereist, obwohl es nach diplomatischem Usus üblich gewesen wäre, dass er seine Reise ebenfalls abgesagt hätte, wenn keine protokollarisch „gleichrangigen“ Gesprächspartner anreisen.

Zu den nun regelmäßigen Meldungen über russische Soldaten an der russisch-ukrainischen Grenze hier der Vollständigkeit halber eine Meldung vom 2. April aus dem Newsticker des „Focus“, die von den schon erwähnten 40.000 Soldaten sprach: „00.07 Uhr: Die im Grenzgebiet zur Ukraine stationierten russische Truppen stellen nach den Worten von Nato-General Philip Breedlove eine unmittelbare Gefahr dar. Die rund 40.000 Soldaten könnten innerhalb von zwölf Stunden angreifen „und sie könnten ihre Ziele in drei bis fünf Tagen erreichen“, sagte er der „New York Times“. Breedlove äußerte Zweifel an der Ankündigung Moskaus, die Soldaten aus dem Grenzgebiet zurückzuziehen. Zwar bewege sich ein Bataillon von 400 bis 500 Mann, „aber wir können nicht bestätigen, dass es das Schlachtfeld verlässt“.“

Bei dieser Zahl von 40.000 Soldaten wird es in Zukunft bleiben, wie wir noch sehen werden. Abgesehen davon war die Wortwahl der Nato verstörend, wenn sie von einem „Schlachtfeld“ sprach, wo es doch in Wirklichkeit um Soldaten auf dem Boden ihres eigenen Staates ging. Eine Schlacht fand jedenfalls zu diesem Zeitpunkt nicht statt.

Am 3. April schrieb Andre Eichhofer, ein freier deutscher Journalist, in der „Welt“ ebenfalls über die „russische Bedrohung“. Unter der Überschrift „Macht Putin Ernst, hat die Ukraine keine Chance“ schrieb er in der „Welt“: „Russland konzentriert nach ukrainischen Angaben Luftwaffendivisionen an der Grenze, dazu Hunderte Panzer. Die Ukraine kann dem kaum etwas entgegensetzen. In der russischen Kleinstadt Belgorod nahe der ukrainischen Grenze ist nur wenig Militär zu sehen. Ab und zu schraubt sich ein Helikopter in die Höhe, ansonsten wirkt die Stadt ruhig wie immer. Doch der Schein trügt, glaubt man der Nato und Militärexperten in Kiew. Russland soll an der Grenze zur Ukraine massiv Militär aufgefahren haben, versteckt von der Öffentlichkeit und für die Einwohner von Belgorod nicht sichtbar, berichtet die Nato … Rund 40.000 Soldaten habe Russland insgesamt an der Grenze stationiert, berichtet die Nato. … In drei bis fünf Tagen könne Russland die Ukraine einnehmen, berichtet die Nato weiter. Die russische Armee könnte vom Norden über Tschernigow, von Osten über Charkow und Dnipropetrowsk und vom Südosten über Saporoschje Richtung Kiew marschieren, heißt es. „Die Gefahr einer Intervention ist trotz scheinbarer Entspannung auf der Krim immer noch sehr hoch“ sagt Oleksey Melnyk, Politologe beim Kiewer Razumkov-Zentrum.“

Die Nato sollte in der Folgezeit öfter davon reden, dass Russland die Ukraine in drei bis fünf Tagen einnehmen könne. Diese Behauptung gilt es zu hinterfragen. Im Irakkrieg brauchten die USA sechs Wochen und 300.000 Soldaten, um den Irak zu besiegen. Wie nun Russland mit den 40.000 Soldaten, welche die Nato meldete, in maximal fünf Tagen die Ukraine einnehmen sollte, die immerhin fast 200.000 Soldaten (Wikipedia) bzw. mindesten 130.000 Soldaten (Presseberichte) unter Waffen hatte, erschließt sich nicht. Egal, wie schlecht die ukrainische Armee ausgestattet war, auch Saddams Armee war nach zehn Jahren Sanktionen in keiner guten Verfassung. Diese Angaben der Nato, dass Russland die Ukraine in drei bis fünf Tagen einnehmen könnte, erscheinen hier durchaus wie Propaganda und Panikmache. Dass auch die Nato Propaganda betreibt, ist kein Geheimnis. Es stellt sich eher die Frage, warum die Nato hier eine Gefahr beschrieb, die in der Form nicht bestanden hat. Abgesehen davon, dass trotz aller Meldungen der Nato über eine Invasionsarmee Russlands an der russisch-ukrainischen Grenze diese Invasion der russischen Armee bis heute ausgeblieben ist. Die mögliche Unterstützung Russlands für die pro-russische Seite im ukrainischen Bürgerkrieg werden wir noch genauer anschauen und ich will dem hier nicht vorgreifen. Aber selbst wenn man voraussetzt, dass Russland die pro-russischen Rebellen im späteren Bürgerkrieg unterstützte oder gar selbst mit Soldaten dort kämpfte, kann man dies nicht als Invasion bezeichnen. Wie eine echte Invasion aussieht, hat die Welt zuletzt gesehen, als die USA mit ihrer „Koalition der Willigen“ den Irak erobert haben. Die Bilder aus dem Bürgerkrieg in der Ukraine unterscheiden allerdings von den Bildern im Irak.

Die Einstellung der Deutschen zu der Krise zu diesem Zeitpunkt machte den führenden deutschen Politikern Sorgen, wie der Newsticker des „Focus“ am 5. April meldete: „5.April, 5.33 Uhr: Führende Politiker von Union, SPD und Grünen fürchten eine Abkehr von der traditionellen Westbindung Deutschlands. Anlass zur Sorge ist den Politikern ein Ergebnis des aktuellen Deutschlandtrends im Auftrag der ARD-„Tagesthemen“ und der „Welt“ in dem die Deutschen sich eine neue Rolle für ihr Land als eigenständigen Pol zwischen Ost und West wünschen. „Dass die Bürgerinnen und Bürger Deutschland künftig stärker zwischen dem Westen und Russland sehen wollen, ist sicher Realität, aber nichts, was dazu führen darf, dass wir diesem Wunsch nachgeben““

Unabhängig davon, welche Meinung man dazu hat, ist es doch ein seltsames Demokratie-Verständnis, wenn sich demokratische Politiker so äußern. Wäre es nicht besser, wenn sie ihre Meinung dem Bürger und Wähler erklären und den Wähler von ihrem Standpunkt überzeugen, anstatt rundheraus zu sagen, dass sie dem Wunsch der Wähler nicht nachgeben wollen? Über Politikverdrossenheit dürfen sich Politiker kaum wundern, wenn sie mit solchen Äußerungen die Stimmung im Land kommentieren, anstatt darauf einzugehen.

Der Vollständigkeit halber zum Schluss noch eine Meldung über die Aussetzung der deutsch-russischen Regierungskonsultationen aus dem Newsticker des „Focus“ vom 6. April: „13.26 Uhr: Trotz der Aussetzung der deutsch-russischen Regierungskonsultationen sollen laut „Spiegel“ die Kontakte zu Russland in dem Gesprächsforum „Petersburger Dialog“ fortgesetzt werden. Für den 23. und 24. April sei ein Treffen in Leipzig geplant. Bisher fand der „Petersburger Dialog“ in der Regel parallel zu den Regierungskonsultationen statt, die wegen der Krim-Krise ausgesetzt wurden.“

Am Jahresende wurde, wie wir noch sehen werden, auch der Petersburger Dialog auf Druck des Kanzleramtes abgesagt.


Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

12 Antworten

  1. Zitat…:

    „Wir sind wieder wer“

    …fremdschämen reicht nicht mehr – denn das was jetzt in „D“ wieder den Ton diktiert – dagegen waren Hitler & Co. kleine Kinder… 😡😡😡

  2. Sehr gut, dass hier in Teilen noch einmal die reale Geschichte als Artikel erscheint.
    Hr Röper könnte eventuell einige Abschnitte fett markieren oder farblich herausstellen….

    Hier besonders den Teil, dass die Nazi-Truppen bereits im Februar 2014 von der „Riegerungsmannschaft“ ganz offiziell dem Militär zugeordnet wurde! Und vor allem auch der Umfang!

    Jacque Baud, hatte das im Interview im März 2022 bestätigt, dass diese fanatischen Nazis dann auch überall in die Städte ( besonders Odessa) als „Ordnungskräfte“ entsandt wurden & dann dort die Verwaltungen übernommen haben…..

  3. Und warum diese Nationalgarde? Damit der Rechte Sektor ein Gehalt bekommt. Aber auch für das, was dann kam: Die Anti-Terror-Operation (ATO), wofür man das Militär nicht einsetzen konnte, denn das würde sich weigern, auf die eigenen Landsleute zu schießen. Diese Nationalgardisten würden schießen, das war klar. Man kann sich ja mal auf Wikipedia die Berichte über die zwei Hauptschlachten des Krieges 2014, um Mariupol und Sawr Mohyla durchlesen. Auf ukrainischer Seite ist nur die Rede von Azow-Bataillon und Nationalgarde. Beispiel Mariupol:

    „Am Morgen des 13. Juni 2014 griff die Nationalgarde, unterstützt vom Regiment Asow, das von Andrij Bilezkyj angeführt wurde, die besetzten Gebäude der Stadtverwaltung und das Theater an.“

    Eine Nationalgarde wird üblicherweise im Inneren eingesetzt und hat deshalb keine schweren Waffen. Hier nicht, die Garde bekam die besten Waffen. Wird auch jetzt so sein: die Leos bekommt Azow. Deutsche Panzer schießen wieder auf Russen und im Panzer drin sind im Schnitt fünf auftätowierte Hakenkreuze. Ist jetzt Beschlusslage.

    Dann dieser Parubij: der ist die Schlüsselfigur. Er hat sich selbst als „Kommandeur des Maidan“ bezeichnet und das war er. Damit ist er höchstwahrscheinlich der, der den Befehl zu den Schüssen auf dem Maidan gegeben hat. Hier hat er nun die ATO vorangetrieben, durch völlig überhöhte Zahlen an russischen Soldaten. Er wollte die ATO unbedingt und er durfte sie auch leiten. Im Februar wurde er Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, womit ihm alle bewaffneten Einheiten, also Polizei, Militär, Geheimdienste und natürlich die Nationalgarde unterstanden. Für das, was dann in der Ostukraine passierte, ist er verantwortlich.

    Anfang August trat er ohne erkennbaren Grund zurück. Ich sag mal so: man begann Fragen zu stellen. Die Enthüllungen von Peter Haisenko waren eingeschlagen wie eine Bombe. Der absichtliche Abschuss von MH17 durch ein ukrainisches Flugzeug wurde überall diskutiert. Wenn das nun stimmt, dann musste der Pilot den Befehl zum Abschuss von ganz oben bekommen haben, um sicher zu sein, dass er nicht von einer höheren Instanz angeklagt würde. Ganz oben, das war eben Parubij. Eben in diesem Zusammenhang begann es eng zu werden.

    Der Abschuss erfolgte exakt an Angela Merkels 60. Geburtstag. Zufall? Wenn es aber als Geschenk gedacht war, dann entspricht das haarscharf dem Humor des Andreij Parubij. Es war durchaus ein Geschenk, der Westen durfte endlich das tun, was er schon immer wollte: Russland mit harten Sanktionen überziehen.

    Ich wollte das erwähnt haben. In diesen Kategorien muss man denken in der Ukraine.

  4. @“Am 31. März brachte die „Huffington Post“ einen Artikel, der ab und an später zitiert wurde, weshalb ich hier darauf eingehe. Unter der Überschrift: „Ex-Berater warnt: Putin will auch in Weißrussland, die baltischen Staaten und Finnland einmarschieren““

    In Weißrussland braucht er das gar nicht, bzw. russische Truppen werden dort gerne eingeladen. Was die übrigen Staaten angeht – wo Putin nicht hin will, soll er die Bevölkerung möglichst davon überzeugen, damit der Panikmache Wind von den Segeln genommen wird.

    Das Foto oben im Artikel zeigt übrigens die Werte des Wertewestens – links die NATO-Fahne und rechts die… alternative NATO-Fahne. Die linke hängt vor dem Statthalterpalast in Warschau, wo Duda sitzt (der Palast heisst wirklich so – in Kongresspolen residierte dort der Bruder des Zaren). Als ich dort im Sommer 2020 war, gab es die rechte noch nicht, aber ich werde nicht schwören, ob es noch aktueller Stand bleibt.

              1. Machen Sie das im jemanden Auftrag, durch dieses ständige Poltern Webforen möglichst unbrauchbar zu machen? (Rhetorische Frage eher) Typische Methoden der sog. Grünen Netzfeuerwehr, im Namen Globaler Wokeness.

                1. ….und noch mehr 💩💩 ohne Bezug zu Artikel und Kommentar… – außer Beleidigungen vom Spamverteiler … – was soll’s – wir wissen, was ES ist… 🙄😎

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