Warum? – Studie spricht von sozialen Problemen in Deutschland, der Spiegel sieht das anders

Der DGB hat eine sehr interessante Studie zur Lohn- und Vermögensentwicklung in Deutschland vorgelegt. Und wie nicht anders zu erwarten, komme ich bei der Analyse zu anderen Ergebnissen, als der Spiegel, für den in Deutschland alles in Ordnung ist und der keine große Diskrepanz bei Lohn- und Vermögensentwicklung sehen will.
 
Daher lohnt sich, wie immer in solchen Fällen, ein Blick auf die Details. Wollen wir die Aussagen im Spiegel doch mal mit den tatsächlichen Ergebnissen der Studie abgleichen.
 
Der Spiegel beginnt seinen Artikel ganz im Stile eines Regierungssprechers mit der guten Nachricht, dass der Aufschwung in Deutschland seit nunmehr zehn Jahren andauert. Und dann stellt er die Frage, um die es ja in Deutschland und im globalisierten Westen allgemein geht: „Wo kommt dieser historische Aufschwung eigentlich an?
 
Und der Spiegel stellt dann die beiden gängigen Thesen gegenüber: „Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Die einen verweisen darauf, dass seit 2005 sechs Millionen neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstanden sind und der Boom so allen zugutekommt. Andere entwerfen das Bild von einem Land, in dem die Reichen immer reicher werden, die Zahl der Armen wächst und die Mittelschicht schrumpft – von einem Land also, das immer ungleicher wird. Wie also wird der neu erworbene Wohlstand in der Gesellschaft verteilt?
 
Anschließend beschreibt der Spiegel die Situation nach Themen gegliedert. Zunächst die Löhne: Der Spiegel stellt hier korrekt fest, dass zwischen 2000 und 2010 die Löhne gesunken sind: „De facto konnten sich Arbeitnehmer im Schnitt weniger leisten, die Reallöhne sanken also.“
 
Dann aber die vermeintlich gute Nachricht gleich hinterher: „Die Einkommen der Arbeitnehmer sind im aktuellen Aufschwung sogar stärker gestiegen als die Einkommen aus Unternehmensgewinnen und Vermögen.
 
Also laut Spiegel alles gut in den letzten Jahren, die Löhne sind sogar stärker gestiegen, als die Unternehmensgewinne und Vermögen. Aber stimmt das? Gemäß der Lohnquote, auf die Spiegel sich bezieht, sieht es tatsächlich so aus, nur wollen wir uns mal die Details ansehen.
 
Zunächst zu den Begriffen: Es macht keinen Sinn, die Bruttolöhne zu vergleichen, denn davon gehen Steuern, Abgaben und Inflation ab, außerdem zahlen wir unsere Rechnungen vom Nettolohn. Das einzige, was brauchbare Angaben liefert, sind die Realen Nettolöhne. Die werden folgendermaßen gemessen: Man nimmt in diesem Fall als Stichtag das Jahr 2000 und misst dann, wieviel die Menschen in den Folgejahren netto in Preisen des Jahres 2000 verdient haben. Im Jahr 2000 lag der durchschnittliche Nettolehn bei 1.398 Euro. Bereinigt um Steuern und Inflation sank er bis 2009 auf nur noch 1.336 Euro, die Menschen hatten also gut 5 Prozent weniger Einkommen. Erst danach kam ein Anstieg auf 1.484 Euro im Jahre 2017. Das sind, im Vergleich zum Jahr 2000 gerade mal 0,4 Prozent und im Vergleich zu 1991 sogar nur 0,2 Prozent. De facto haben die Menschen in Deutschland also seit 26 Jahren keine reale Lohnerhöhung mehr bekommen.
 
Der Anstieg, den der Spiegel für die letzten Jahre so euphorisch bejubelt, war nur eine Aufholjagd, um überhaupt wieder auf das Niveau von 1991 zu kommen, von einem Zugewinn kann keine Rede sein. (Statistik des DGB, Seite 23)
 
Auch im Ost-Westvergleich ist noch viel zu tun. In keiner Branche haben sich die Löhne angeglichen, am extremsten ist die Situation im verarbeitenden Gewerbe, wo die Menschen im Osten nur 70% des Westlohnes erhalten. Und das immerhin 27 Jahre nach der Deutschen Wiedervereinigung. Im Spiegel wird das nicht erwähnt, es geht uns ja gut in Deutschland.
 
Der DGB stellt in seinem Fazit zu den Löhnen unter anderem daher auch fest, dass sich die Löhne nur knapp über den Niveau der Nullerjahre bewegen (bei gerade mal 0,4% Zuwachs in 17 Jahren eine zwar mathematisch korrekte Formulierung, aber ich würde es anders formulieren) und dass die Angleichung der Löhne in Ost und West seit 20 Jahren stagniert, mit anderen Worten: Es tut sich gar nichts in Sachen Lohnangleichung.
 
Was der Spiegel nicht erwähnt ist, dass die Vermögens- und Kapitaleinkommen in Deutschland schneller steigen, als die Arbeitseinkommen und dass für die privaten Haushalte die Bedeutung von Vermögenseinkommen abnimmt. Diese technokratische Formulierung bedeutet nichts anderes, als dass die privaten Haushalte ärmer werden und weniger sparen. Und wenn sie sparen, dann leiden sie unter den derzeit niedrigen Zinsen und bekommen nichts für angelegtes Geld. (Kapitel 5 der Studie)
 
Der Spiegel behandelt als nächstes das streitbare Thema der Managergehälter. Und auch da ist laut Spiegel alles nicht so schlimm, die Manager verdienen gar nicht so exorbitant mehr, als die Arbeitnehmer: „Insgesamt ergibt sich für die größten deutschen börsennotierten Unternehmen dennoch ein gemischtes Bild. Denn in einigen sind die Managergehälter weit weniger entfernt von denen normaler Mitarbeiter. Beim Energieriesen RWE beispielsweise verdient ein Vorstand lediglich das 30-fache. Eine Überraschung ist die Deutsche Bank – zumindest im Jahr 2017 verdiente ein Vorstand nur 34-mal so viel wie ein durchschnittlicher Angestellter.“
 
Nun ist das keine Überraschung, denn die Vorständer der Deutschen Bank haben große Boni in ihren Verträgen und der Deutschen Bank geht es momentan nicht gut, entsprechend gibt es wenig Boni. Aber unter dem Strich ist der Spiegel zufrieden. Auch der DGB hat nicht viel zu kritisieren, denn im internationalen Vergleich steht Deutschland beim Vergleich der Einkommen von Management und Arbeitnehmer nicht schlecht da.
 
Interessant ist jedoch das Kleingedruckte in der Studie: „Zudem sollten Gehälter, Boni und Pensionen ab einer bestimmten Höhe zukünftig nicht mehr steuerlich privilegiert werden, indem die Abzugsfähigkeit der Vergütung als Betriebsausgaben begrenzt wird. Der Aufsichtsrat sollte einem Vergütungssystem mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Damit wird es nicht länger möglich sein, dass die Kapitalseite die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat überstimmen kann.“
 
Das bedeutet, dass es erstens für Unternehmen steuerlich günstig ist, hohe Managergehälter zu zahlen und zweitens, dass die Aufsichtsräte, die über die Gehälter der Manager bestimmen, in der Regel Duzfreunde der Manager sind. Hier können sich also die Kumpel im Management gegenseitig gute Gehälter zuschanzen und die Arbeitnehmervertretungen, die in Deutschland ja nun einmal gesetzlich vorgesehen sind, können dagegen nichts machen.
 
Nun bin ich kein Freund der Neiddebatten und halte hohe Managergehälter bei guter Arbeit für OK, denn gute Arbeit eines Managers bedeutet in der Regel, dass es der Firma gutgeht und die Arbeitsplätze sicher sind. Aber wie gesagt, nur in der Regel: Heute kann ein Manager auch gutes Geld verdienen, wenn er durch Arbeitsplatzabbau und Kosteneinsparungen zwar den Aktienkurs der Firma in die Höhe treibt, aber die Arbeitnehmer von diesem Erfolg nichts haben. Und da wäre es in meinen Augen wichtig, einzugreifen.
 
Nur mal eine Idee: Sollen die Manager so viel verdienen, wie sie wollen. Aber in der Einkommenssteuer für Topmanager wird ein Koeffizient eingeführt, der zum Beispiel bei einem Abbau von 10% der Arbeitsplätze auch die Einkommenssteuer des Managers um 10% erhöht. Das ist keine ausgereifte Idee, sie kam mir jetzt gerade beim Schreiben.
 
Aber man könnte über so etwas doch mal nachdenken und darüber diskutieren, damit die Manager einen Anreiz haben, Arbeitsplätze zu schaffen. Genauso könnte man einen Koeffizient einführen, der an die Höhe der Löhne in einer Firma gebunden ist. Ich gönne jedem Topmanager sein Gehalt und ich war selbst lange Topmanager. Aber ich weiß daher auch, dass viele sich um diese Fragen bei ihren Entscheidungen leider gar keine Gedanken machen. Da würde ein steuerlicher Anreiz für eine gute Bezahlung der Mitarbeiter vielleicht die Denke im Management ein wenig ändern.
 
Aber zurück zu der Statistik: Beim Thema „Einkommensverteilung“ (Kapitel 6 der Studie), hat der Spiegel nur über das Thema Managergehälter berichtet und zwei andere wichtige Aspekte weggelassen. Das verwundert, denn der Spiegel hat doch am Anfang des Artikels diese Frage gestellt: „Wie also wird der neu erworbene Wohlstand in der Gesellschaft verteilt?
 
Die Antwort findet sich in diesem Kapitel. So kann man in dieser Grafik sehen, dass die Einkommen der unteren 10% der Bevölkerung seit 1991 sogar noch um 10% gefallen sind und auch die „zweitärmsten“ 10% der Bevölkerung heute auch weniger zur Verfügung haben, als 1991. Die Ärmsten wurden in Deutschland also noch ärmer.

Und dann geht es aufwärts, je mehr Einkommen jemand ohnehin schon hatte, um so stärker wuchs auch sein Einkommen seit 1991. Den größten Sprung machen, wen wunderts, die reichsten 10% der Bevölkerung, deren Einkommen um 30% angestiegen ist.
 
Nur warum berichtet der Spiegel nicht darüber? Stört es den gewünschten Eindruck? Man erzählt uns doch immer, wie gut es uns Deutschen geht. Nur offensichtlich eben nicht allen.
 
Und auch die nächste Grafik bestätigt das. Sie zeigt den Anteil am Gesamteinkommen nach Einkommensgruppen. Und siehe da: Die ärmsten 50% der Bevölkerung hatten massive Einbußen zu verkraften. Betrug ihr Anteil am Einkommen 1995 noch über 25%, sind es nun nur noch knapp über 15%, sie fallen also immer weiter zurück.
Für die 40% der Bevölkerung, die ein mittleres Einkommen haben, hat sich kaum etwas verändert, die pendeln bei 40-45% des Gesamteinkommens.
 
Aber die reichsten 10% haben ihren Anteil von knapp über 30% auf nun über 40% ausgebaut.
 
Man muss kein Linker sein, um zu sehen, dass da was nicht stimmt und dass die 10%, die die arme Hälfte der Bevölkerung nun weniger verdient, direkt bei den reichsten 10% gelandet ist.
 
Nur hat der Spiegel diese Dinge irgendwie übersehen.
 
Völlig korrekt hingegen behandelt der Spiegel die Vermögensverteilung in Deutschland und er stellt fest, dass 1% der Bevölkerung 30% des Vermögens gehört, während die untere Hälfte (also 50%) der Bevölkerung sich 2,7% teilen. Das sind bekannte Zahlen und sogar der Spiegel stellt fest, dass Vermögen in den meisten Ländern der Welt höher besteuert werden, als in Deutschland. So macht die Vermögenssteuer in Großbritannien 13% des Steueraufkommens aus, in Deutschland jedoch gerade mal 2,9%. Für die chronisch leeren Staatskassen wäre eine Vermögenssteuer also hilfreich und bei so einer extremen Verteilung der Vermögen wohl auch gerecht. Aber jeder muss selbst sehen, was er als gerecht empfindet.
 
Ein weiteres Thema ist der Unterschied beim Einkommen von Männern und Frauen. Dies ist ein heißes Eisen, denn in den gängigen Statistiken wird die Arbeitszeit nicht berücksichtigt. Und es ist nun einmal so, dass Teilzeit in Deutschland ein fast ausschließlich weibliches Phänomen ist, weshalb man nicht überrascht sein darf, dass Frauen im gleichen Job weniger verdienen, wenn sie weniger arbeiten.
 
Das ist in meinen Augen ein gesellschaftliches Problem und keines der gerechten Entlohnung, denn in Tarifverträgen gibt es keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, das bedeutet, dass für gleiche Arbeit und gleiche Berufsjahre auch das gleiche bezahlt wird. Dass Frauen trotzdem „für gleiche Arbeit“ weniger verdienen, liegt an der Teilzeit.
 
Gut an der Studie ist, dass sie auch die Unterschiede in verschiedenen Branchen aufzeigt, denn ein weiterer Grund für die insgesamt schlechtere Bezahlung von Frauen ist, dass sie oft in schlechter bezahlten Berufen tätig sind. Das ist in meinen Augen unfair, denn ich würde die Bezahlung zum Beispiel in Pflegeberufen deutlich anheben, schließlich ist das nicht nur eine harte körperliche Arbeit, sondern auch eine gesellschaftlich extrem wichtige.
 
Interessant ist, dass Frauen in einigen Branchen sogar mehr verdienen, als Männer. Aber insgesamt ist in Deutschland der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern größer, als in anderen Ländern.
 
Ganz extrem ist der Unterschied bei den Renten, wo Deutschland im internationalen Vergleich sogar Schlusslicht ist. Nun ist es natürlich so, dass bei den heutigen Rentnern mehr Frauen Hausfrau waren, als das in Zukunft der Fall sein wird. Trotzdem ist ein Unterschied von 46% in meinen Augen ein Skandal. Ich verstehe nicht, warum eine Frau, wenn sie gar nicht oder nur halbtags arbeitet, um sich um die Kinder zu kümmern, dafür in der Rente nicht besser belohnt wird. Sie tut für die Zukunft der Gesellschaft weit mehr, als ein Mann, der arbeiten geht. Der heutige Arbeitnehmer zahlt die Renten für die heutigen Rentner, so ist das deutsche Rentensystem aufgebaut. Die Frau, die nicht arbeitet, um Kinder zu erziehen, tut etwas für die Zukunft der Gesellschaft, denn die Kinder von heute zahlen die Renten von morgen. Das müsste in meinen Augen viel besser gewürdigt und mit dem Rentenbeitrag eines Durchschnittsverdieners angerechnet werden.
 
Ich will damit übrigens keineswegs dafür werben, dass Frauen zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern sollen, ich will damit nur sagen, dass diejenigen, die sich dafür entscheiden, dafür nicht bestraft werden sollten. Ich bin für flächendeckende und kostenlose Kitas, damit jedes Paar und auch jeder bzw. jede Alleinerziehende, die Wahl hat, ob man arbeiten geht oder sich selbst um die Kinder kümmert. Deutschland ist, und das kann ich, als seit 20 Jahren im Ausland lebender Deutscher beurteilen, bei der Förderung von Kindern und Familien ein Entwicklungsland. Aber das nur am Rande.
 
Das letzte Thema der Studie ist die Situation bei den Mieten. Leider finde ich die Aussagen dazu sehr schwammig und auch der Spiegel konstatiert nur sehr allgemein: „Als Faustregel gilt: Wohnen hat dann einen angemessenen Preis, wenn ein Haushalt nicht mehr als 30 Prozent des Einkommens dafür aufwenden muss. Doch mindestens vier von zehn Haushalten sind gezwungen, einen höheren Anteil ihres Einkommens für die Miete auszugeben. Jeder fünfte Haushalt muss gar mehr als 40 Prozent bezahlen. Da der im Verteilungsbericht zitierten Statistik Daten aus dem Jahr 2014 zugrunde liegen, dürfte sich dieses Problem inzwischen noch deutlich verschärft haben.
 
Aber das 40% der Haushalte sich schon sehr krummlegen müssen, um sich überhaupt ein Dach über dem Kopf leisten zu können, ist bedenklich, aber nicht neu.
 
Fazit: Der Spiegel findet alles insgesamt ganz gut in Deutschland, obwohl die Reallöhne seit 27 Jahren nicht gestiegen sind und gleichzeitig die ärmsten 20% noch spürbar ärmer geworden sind, während die reichsten 10% ihr Einkommen massiv erhöhen konnten. Ich finde, da ist gar nichts in Ordnung und da der Osten davon stärker betroffen ist, als der Westen, muss man sich über immer mehr Demonstrationen im Osten Deutschlands nicht wundern. Es gibt eine begründete und tief liegende Unzufriedenheit in Deutschland, die sich ihren Weg sucht.
 
Es ist höchste Zeit, sich wieder daran zu erinnern, dass Deutschland ein Sozialstaat ist. Das bedeutet, dass alle in Deutschland am Wohlstand teilhaben sollten, jedoch sind mindestens 20%, also 16 Millionen Menschen, abgehängt worden. Wenn man nach den Kosten der Mieten geht, sogar 40%, also 32 Millionen. Und für ein angeblich reiches und soziales Land sind das skandalöse Zahlen. Aber den Spiegel scheint das nicht zu stören.
Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

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