Afghanistan

Teil 5: Das Leben in Afghanistan unter den Taliban

Ein Korrespondent des russischen Fernsehens hat kürzlich ganz Afghanistan bereist. Hier übersetze ich seine Reportagen aus einem Land, über das wir heute kaum etwas wissen.

Ich habe vor einigen Tagen angekündigt, dass ich russische Reportagen über das Leben in Afghanistan unter den Taliban übersetzen werde. Ein Korrespondent hat kürzlich das ganze Land bereist und jeden Sonntag wurde im wöchentlichen Nachrichtenrückblick des russischen Fernsehens eine seiner Reportagen ausgestrahlt. Ich habe die Reportagen übersetzt und veröffentliche nun jeden Tag eine davon.

In diesem fünften Teil ging es um den Kampf der Taliban gegen die Kriminalität.

Beginn der Übersetzung:

Die Taliban haben in Kabul Ordnung geschaffen

Wenn man die Augen schließt und zuhört, wird man nie erkennen, um welche Stadt es sich handelt: Teheran, Kairo, Bagdad oder Islamabad? Kabul ist genauso. Das Hupen der Autos hört tagsüber nicht auf. Alle hupen ohne Grund. Einfach aus Gewohnheit, das ist eben der Osten. Man ist es auch gewohnt, so zu fahren.

Die Verkehrspolizisten hier haben große Erfahrung. Sie arbeiten seit 30 bis 40 Jahren am selben Ort, sie haben mehr als eine Regierung erlebt und keine neue Regierung hat diese Leute verändert. Ohne Erfahrung wird man hier verrückt.

Ich frage den Verkehrspolizisten, warum der Verkehr hier so ist. Seine Antwort war: „Die kennen die Regeln einfach nicht. Das war schon immer so in Kabul. Man fährt, wie man will, die Verkehrsregeln kennt man überhaupt nicht. Wir helfen, das in Ordnung zu bringen, sonst steht die Stadt im Stau.“

Heute muss man in der Stadt nicht mehr um sein Leben fürchten, auch wenn Terroranschläge an belebten Orten immer noch möglich sind. Aber früher konnte man leicht am helllichten Tag mit einer Waffe bedroht und um sein Kleingeld gebracht werden. Heute ist das kaum noch vorstellbar, denn die Taliben haben schnell für Ordnung gesorgt. Sie nahmen die Waffen jedem, der keine haben durfte, weg. Die Verbrecher wurden festgenommen, die schlimmsten erschossen oder gehängt, die anderen ins Gefängnis gesteckt. Einige verstecken sich noch in den Slums des schmutzigen Marktes, aber auch sie werden bald gefasst.

Ich frage Said Saidi, einen Offizier der Nationalgarde: „Wir waren vor drei Jahren hier und es gab Sicherheitsprobleme. Jetzt sind wir angekommen und die Stadt ist ruhig. Ich verstehe, dass das auch Ihr Verdienst ist. Sie leisten großartige Arbeit. Wie ist die aktuelle Lage?“

„Vielen Dank für Ihre netten Worte. Es ist uns wirklich gelungen, Kabul zu verbessern. Der Verkehr auf den Straßen zählt nicht, wir werden uns aber auch darum kümmern. Das Wichtigste ist, dass es viel weniger Terroranschläge gibt. Die Amerikaner sind raus, den IS werden wir vernichten. Und so Allah will, wird Afghanistan gut leben“, war seine Antwort.

Für jede Schusswaffe braucht man einen Waffenschein. Diese Jungs haben einen, denn sie sind vom Sicherheitsdienst der Stadt. Sie haben uns schon lange beobachtet. Sie haben gesehen, dass wir Russen sind und haben uns angesprochen. Der eine hat ein M1-Gewehr, der andere eine Kalaschnikow. Auf die Frage, welche Waffe besser sei, antworten sie eindeutig: die Kalaschnikow. Das erklärten sie so: „Die Kalaschnikow ist kein amerikanischer Schrott. Kalaschnikow hat uns geholfen, die Amerikaner zu besiegen.“

Die Stadt scheint nach dem Abzug der Koalitionstruppen aufgeatmet zu haben. Die 20 Jahre Besatzung Afghanistans sind wie ein böser Traum verblasst. Wenn man hier dankbar von Ausländern spricht, dann nur von den Sowjets, die vor fast 40 Jahren hier waren.

Der Stadtbewohner Abdul Wahid erzählt: „Die Russen haben in ganz Afghanistan gebaut und alles gemacht. Die Russen haben geholfen, sie haben sich um die Menschen gekümmert, es war ihnen nicht egal. Sie haben uns sehr geholfen. Die Amerikaner haben nur bombardiert und getötet, wir brauchten sie nicht. Die Russen haben uns vereint, alle Völker zusammen. Die Amerikaner dagegen haben versucht, uns zu spalten. Sie haben versucht, dich, mich und ihn zu Feinden zu machen. Die Russen haben das nicht getan, sie sind weise.“

Abdul Wahid weiß, wovon er spricht. Er wurde in Kabul geboren. In seinen 65 Jahren hat er viel gesehen und den Krieg immer wieder erlebt. Für ihn ist er erst jetzt zu Ende. In seinem Viertel, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat, ist Frieden eingekehrt. Ein trostloser, zermürbender Frieden, aber immerhin Frieden.

Praktisch alle russischen Journalisten, die nach Kabul kommen, berichten über dieses Viertel. Es wurde von sowjetischen Bauarbeitern errichtet und sowjetische Spezialisten lebten dort. Genau die Leute, die Straßen, Tunnel, Brücken, Kraftwerke und viele andere Dinge gebaut haben, die das Leben der Menschen hier verbessert haben. Mit ihrem Weggang hat sich die Situation natürlich verändert. Und auch diese Häuser sind keine Ausnahme, denn sie verfallen allmählich. Niemand investiert auch nur einen Cent in größere Renovierungen oder gar Schönheitsreparaturen. Das ist die Einstellung zu allem: Solange es ein Dach gibt und das Haus steht, werden wir drin wohnen.

Oleg Gontsow ist eine Legende. Er hat sieben Jahre in Afghanistan gekämpft und ist danach noch viele weitere Jahre im Namen der russischen Afghanistan-Veteranen hierher gekommen. Sein jetziger Besuch mit unserem Filmteam ist sein fünfzigster. Er weiß so viel über dieses Land, dass es für eine ganze Serie reichen würde. Er erzählt von sowjetischen Frauen, die hier ein neues Zuhause gefunden haben: „Hier in Kabul hat sich ein Club russischer Ehefrauen gebildet. Diese Frauen haben Afghanen geheiratet und lebten hier in der Nachbarschaft. Es waren ziemlich viele. Es waren nicht nur Frauen aus Russland, sondern auch aus der Ukraine. Das heißt, sie kamen aus der ganzen Sowjetunion. Einige dieser Frauen sind nach dem Abzug unserer Truppen und dem Machtwechsel hier geblieben. Nach meinen Informationen sind etwa zehn Frauen während der Kämpfe und Unruhen verschwunden.“

Bis 1973 gab es für die Afghanen noch gute Zeiten. Das war die Zeit der Monarchie. Unter König Zakir Shah mussten Frauen nicht nur keinen Schleier tragen, sie erhielten auch das Recht auf Hochschulbildung und das Wahlrecht bei Parlamentswahlen. Afghanistan hatte damals sehr gute Beziehungen zur Sowjetunion. Der König meinte: „Im Koran steht nicht, dass Allah gegen den Kommunismus ist, warum sollten wir ihn also bekämpfen?“

Fast jedes Jahr kam er nach Moskau, von wo aus er nach Leningrad, Pjatigorsk und Jewpatoria reiste. Fotos zeigen Zakir-Schah, als er das Pionierlager Artek auf der Krim besuchte. 1973 wurde der König von Afghanistan von seinem Bruder abgesetzt und die Monarchie hörte auf zu existieren.

Allerdings ehrt und gedenkt das Volk der königlichen Familie. Ein riesiges Pantheon erhebt sich über Kabul. In der Mitte des Säulenganges steht ein schwarzer Sarg. Er ist aber nicht echt. Direkt unter dem Grab von Zakir Shah befindet sich eine Nekropole für Touristen. In dem unterirdischen Gang sollen alle Mitglieder der königlichen Familie begraben sein. Er wird von natürlichem Licht erhellt, das durch die Decke fällt. Man sagt, dass alle Träume wahr werden, wenn man einmal durch diesen Gang geht. Tatsächlich werden hier die Asche und die sterblichen Überreste aller Mitglieder der königlichen Familie und ihrer engsten Untertanen beigesetzt.

Es ist uns gelungen herauszufinden, wem dieses frische Grab gehört, das scheinbar unbekannt ist. Zakir Shahs Sohn Mirwaiz wurde hier vor fünf Monaten beigesetzt. Die königliche Linie setzt sich natürlich fort. Aber die Geschichte der Nekropole hat noch eine andere Seite.

Laut einigen Informationen leben Verwandte des letzten Königs von Afghanistan in Italien, in der Schweiz und in den USA. Natürlich werden sie nicht in ihrer alten Rolle nach Kabul zurückkehren. Von der Dynastie blieben nur die Gräber und die Erinnerungen.

Die Afghanen sind sich nicht ganz sicher, aber Historiker sagen, sie wissen es genau. Direkt unter der Nekropole befindet sich das Grab von Sultan Mohammed Khan, dem Ururgroßvater von Zakir Shah. Bedenkt man, dass es 1861 erbaut wurde, ist der Zustand nicht schlecht. Die Afghanen halten das Andenken ihrer Vorfahren in Ehren.

Der Eingang zum unterirdischen Grabmal ist für Touristen gesperrt, das Pantheon selbst kann jedoch betreten werden.

Wakil Ahmat, ein Einheimischer, erzählt: „Mein Freund und ich studieren in Kabul in einer Madrasa. Unsere Eltern haben uns geschickt. Wenn wir hier unten sind, ist Kabul nicht so schön wie unser Kandahar, es ist zu groß und zu laut. Aber die Aussicht von diesem Berg ist mit nichts zu vergleichen, was wir zu Hause haben. Ringsum sind Berge und die Stadt selbst liegt auf zweitausend Metern Höhe. Das ist eine echte Hauptstadt, sie sieht aus wie ein großer See inmitten der Berge. Wir kommen jeden Freitag hierher, wandern herum und schauen uns die Stadt an.“

Die Begegnungen hier sind erstaunlich. Bashar Ahmadi aus Kandahar hat sich an unser Konsulat in Kabul gewandt. Er hofft auf ein Visum und möchte seinen Bruder in Rostow besuchen, der Heimatstadt unseres Begleiters Oleg Gontsow.

„Das wird sehr interessant für mich sein. Ich habe von meinem Bruder so viel Gutes über Russland gehört, dass ich mir alles selbst anschauen möchte. Außerdem möchte ich dort eine Frau finden. Ihr habt sehr schöne Frauen, sicher die besten der Welt“, so Bashar.

Mit dem Sonnenuntergang werden die Straßen Kabuls immer leerer. Die Händler verlassen die Hauptplätze. Da sie weit außerhalb der Stadt wohnen, müssen sie morgens um 5 Uhr aufstehen und in die Stadt zurückkehren, um wie Tausende andere ihre Waren anzubieten.

Abends, wenn die Arbeit getan, die Waren verkauft und das Geld im Geldbeutel ist, geht praktisch jeder Afghane entweder zu einem Cricketspiel oder schaut anderen Spielern zu. Cricket ist der beliebteste Sport im Land. Die Afghanen sind ein sehr spielsüchtiges Volk und Cricket ist ihr Spiel. Es wird in jedem Dorf gespielt. Deshalb sind sie auch Meister darin.

Die afghanische Nationalmannschaft gehört zu den zehn besten Mannschaften der Welt. Gleichzeitig ist die Nationalflagge, die noch auf den Trikots prangt, seit drei Jahren verschwunden. Und die nicht anerkannte weiße Fahne der Taliban ist bei internationalen Wettkämpfen nicht zugelassen. Auch eine Hymne hat das islamische Emirat Afghanistan nicht. Die geistlichen Führer sind der Meinung, dass Musik einen Muslim korrumpiert und verboten werden sollte. Deshalb singen die afghanischen Cricketspieler im Stadion den Text der Hymne des inzwischen untergegangenen Landes, des demokratischen Afghanistan. Das mag manchem peinlich sein, nicht aber den Fans. Millionen von ihnen feuern ihre Mannschaft zu Hause an. Und auch die, die die 24-stündige Busfahrt auf sich nehmen, um zum Spiel zu kommen. Die Afghanen feuern sie leidenschaftlich an und Allah schenkt ihnen oft Freude. Die Mannschaft hat die Welt bereits beeindruckt, indem sie den amtierenden Weltmeister und zwei frühere Medaillengewinner besiegt hat. Sie haben England, Pakistan und Sri Lanka besiegt.

Nach einem weiteren Sieg singt die Mannschaft in dem Umkleideraum nicht die alte Hymne, sondern ein altes afghanisches Lied. Die Bedeutung der Worte ist klar: Wir haben fair gekämpft und gewonnen.

Und es gibt auch die Worte: Das Glück kommt selten zu den Armen.

Aber das Leben geht weiter. Und wir setzen unsere Reise durch Afghanistan fort. Als Nächstes fahren wir in die inoffizielle Hauptstadt, das paschtunische Kandahar. Außerdem werden Sie erfahren, wie die Taliban eines der schlimmsten Übel auf diesem Planeten besiegt haben.

Ende der Übersetzung


Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

3 Antworten

  1. Keine Frauen, wenn die Leute da mal nur nicht wunderlich werden.
    Sehr viele Frauen sieht man in den Videos nicht, genauer gar keine. Das deckt sich mit einer Video-Empfehlung eines Users von einem Velo-Tourenfahrer der das Land anschaute. Angst musste er nie haben, die Männergesellschaft war freundlich, aber auch aufdringlich. Zu schaffen machte ihm das Strassenbild ohne Frauen, trotz grosser Gastfreundschaft war er dann froh das Land hinter sich zu lassen.
    Insgesamt ist seine Reise ist ein verspielter Kontrast zu den eher ernsten schweren Russischen Videos. RADREISE unlimited https://www.youtube.com/@thegreathans_/videos
    (Anfang: vor 3 Wochen > vor 10 Tagen, anschauen)

  2. Erschütternd und gleichzeitig Hoffnung verheißend:
    Wo die verlogenen US Methoden gescheitert sind muss jetzt mit diktatorischer Gewalt Moral und Ordnung wieder hergestellt werden!

    Ein totales umfassendes Armutszeugnis und Bankrott -Erklärung für die USA!
    P

  3. Die fehlenden Frauen sind mir auch aufgefallen. Ich warte mit jedem Kapitel darauf, dass es mal Aussagen dazu gibt.
    Schade, dass es keine Interviews mit den russischen Ehefrauen gibt, die würden bestimmt auch Interessantes zu erzählen haben.
    Die Taliban sind mit dem Versprechen angetreten, an der Schulpflicht für Mädchen nichts ändern zu wollen. Abgeschafft haben sie die Schulpflicht nicht, aber verkürzt. Komischerweise nicht für die Jungen.

    So interessant dieser Bericht ist, ich denke, das Drehteam bekommt nur Facetten, die Sonnenseiten gezeigt. Nicht das ganze Bild.

    Ich wünsche diesem Land, dass es wieder auf die Füsse kommt, dass die Kriegswunden endlich heilen und die Menschen aufatmen können.

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