Brexit: London kapituliert auf ganzer Linie

Nun wird es wohl zum ungeregelten Brexit kommen, wenn Großbritannien nicht den Brexit verschieben sollte, wonach es immer noch nicht aussieht. Die EU hat auf ganzer Linie gesiegt und London hat heute de facto seine Kapitulation verkündet.

Wichtig: Es gab überraschende Entwicklungen, nachdem dieser Artikel geschrieben war. Diese Ergänzungen finden Sie im Nachtrag am Ende des Artikels. Ich habe den Hauptartikel nicht geändert, sondern die neuen Entwicklungen im Nachtrag angehängt.

In Großbritannien ist man zu zersttitten, als das eine Seite eine Mehrheit bekommen könnte. Egal ob Brexit-Gegner, Anhänger des Brexit um jeden Preis oder diejenigen, die noch weiter über die Bedingungen verhandeln wollen, keine Seite bekommt eine Mehrheit zusammen. Und damit läuft der Automatismus auf einen ungeregelten Brexit zu.

Die EU will es auch gar nicht anders. Sie will, wenn London schon die EU verlässt, ein Exempel statuieren, damit kein anderes Land sagen kann, dass ein EU-Austritt möglich ist. Großbritannien muss bluten, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken. Das habe ich schon vor einem halben Jahr geschrieben und nun wird es wohl genau so kommen.

Es hätte auch anders gehen können, denn die reichsten Staaten Europas, Norwegen und die Schweiz, sind nicht in der EU, haben aber Abkommen mit der EU. Ein solches Abkommen wollte man in Brüssel aber nicht für London, denn dann hätten andere Staaten, zum Beispiel Frankreich, Italien oder Griechenland, dem Beispiel folgen können.

In der Presse konnte man immer wieder von Versorgungsengpässen in Großbritannien im Falle eines ungeregelten Brexit lesen. Selbst die russische TASS hat bereits ein einprägsames Bild veröffentilcht, das aufzeigt, was alles knapp werden könnte, wenn der ungeregelte Brexit am 29. März kommt. Es geht um Obst, Früchte, Hähnchen, Käse, Sandwich, Süßigkeiten wie Mars-Riegel, Eis, Blumen, Medikamente, Trinkwasser, Olivenöl, Wein, Gin, Toilettenpapier, Leichensäcke, Benzin oder Ersatzteile für Fahhräder. Kurz gesagt, fast alles könnte knapp werden.

Der Grund ist, dass nach dem Brexit Zollkontrollen eingeführt werden müssten, der Zoll aber mit der Abfertigung nicht nachkäme, weil das Personal fehlt. Auch würde der Zoll zu einer Verteuerung all dieser Waren führen. London will beides verhindern und hat nun eine auf 12 Monate begrenzte Zollfreiheit für die meisten Waren aus der EU verkündet, sollte es zum ungeregelten Brexit kommen. Dazu steht im Spiegel:

„Der Plan sieht vor, dass weiterhin 82 Prozent aller Importe aus der EU ohne Zölle nach Großbritannien eingeführt werden können. Zugleich sollen mehr Waren, die aus anderen Teilen der Welt auf die Insel geliefert werden, von Zöllen befreit werden. Unter dem Strich soll dadurch der Anteil der zollbefreiten Importe von derzeit 80 auf 87 Prozent steigen.“

Ein Problem um 12 Monate zu vertagen, ist aber keine Lösung des Problems. Was soll danach kommen? Darauf weiß die britische Regierung auch keine Antwort. Man hofft wohl immer noch, schnell mit der EU ein Handelsabkommen aushandeln zu können. Die EU wird jedenfalls die Daumenschrauben weiter anziehen und auf britische Waren Zölle erheben und damit die britische Wirtschaft unter Druck setzen.

Noch deutlicher fällt die britische Kapitulation in der Nordirlandfrage aus.

Das war der wichtigste Streitpunkt beim Brexit. Eine neue harte Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland würde wohl zu einem Wiederaufflammen des Bürgerkrieges dort führen. Daher tut Großbritannien jetzt genau das, was es in den Verhandlungen noch abgelehnt hat: Bei einem ungeregelten Brexit werden in Nordirland keine Zölle erhoben, sondern erst, wenn EU-Waren über Nordirland auf die britische Hauptinsel gelangen. Es wird also eine Zollgrenze innerhalb Großbritanniens geben:

„Die britische Regierung will im Fall eines Brexits ohne Austrittsabkommen vorübergehend auf die Einführung neuer Kontrollen von Gütern verzichten, die über die Landgrenze von Irland nach Nordirland gelangen. EU-Güter, die in Nordirland blieben, sollten gemäß einem zeitweisen und einseitig erhobenen Maßnahmenplan zollfrei sein, teilte die Regierung von Premierministerin Theresa May am Mittwoch mit. Sollten manche davon via Nordirland ins weitere Großbritannien gelangen, würden aber Zölle fällig.“

Damit hat Großbritannien nun genau das getan, was die EU die ganze Zeit gefordert hat. Nur eben einseitig, ohne eine Gegenleistung auszuhandeln.

Das Risiko für Großbritannien als Staat ist gewaltig. Schottland könnte erneut ein Referendum um seine Unabhängigkeit durchführen, denn die Schotten wollen in der EU bleiben. Und auch Nordirland könnte wieder versuchen, sich mit Irland zu vereinigen. Dann bliebe von Großbritannien nur noch ein Rumpfstaat aus England und Wales übrig und die britische Königin müsste sich ein neues Ziel für ihren Urlaub suchen, oder ihn dann im Ausland verbringen, in Schottland.

Egal, wie es weitergeht, ob London noch den Brexit absagt oder verschiebt, oder ob er in zwei Wochen ungeregelt kommt: London hat kapituliert.

Während einige völlig verrückte Politiker in London noch vor kurzem die Neuerrichtung des britischen Empire forderten und ankündigten, dürfte Großbritannien nach dem Brexit eher damit beschäftigt sein, seinen Staat in den heutigen Grenzen zu erhalten und eine Abspaltung von Schottland und Nordirland zu verhindern.

Der EU kann es nur recht sein. Je chaotischer es zugeht, desto abschreckender wird es für potenzielle Nachahmer. Ich unterstelle Brüssel nicht, dass es an einem Wiederaufflammen des Bürgerkrieges in Nordirland interessiert ist, aber wenn es so kommt, dürften sich viele in Brüssel heimlich freuen: Die abschreckende Wirkung auf andere unsichere EU-Mitgliedsländer wäre enorm.

Nachtrag: Großbritannien hat gerade mit sehr knapper Mehrheit von 312 zu 308 gegen einen ungeregelten Brexit gestimmt. Auch wenn der Beschluss nicht bindend ist, dürfte die Regierung nicht riskieren, ihn zu ignorieren (obwohl bei dem Brexit-Zirkus nichts ausgeschlossen ist). Damit hat sich eine interessante Patt-Situation ergeben: Großbritannien kann die EU nicht mehr ohne Abkommen verlassen, was sind nun die Möglichkeiten?

Verschiebung des Brexit: Die EU will das nur tun, wenn es tatsächlich etwas Neues zu besprechen gibt, zum Beispiel ein neues Referendum. Sollte die EU aber gegen eine Verschiebung sein, müsste Großbritannien nochmal im Parlament abstimmen lassen, um doch noch einen ungeregelten Brexit zuzulassen, oder den Brexit ganz absagen.

Neues Referendum: Das wäre eine Verschiebung des Brexit und dann müssten die Briten in einem neuen Referendum entscheiden, ob sie einen ungeregelten Brexit, das ausgehandelte Abkommen oder eine Absage vom Brexit wollen. Viel hängt bei einem solchen Referendum schon davon ab, welche Auswahlmöglichkeiten man den Briten gibt, denn ein Referendum mit drei oder mehr Wahlmöglichkeiten ist kaum zu erwarten.

Absage des Brexit: Das wäre auch ein Sieg für die EU und würde die britische Position in Brüssel schwächen. Die Zeiten der britischen Sonderwege wäre auf absehbare Zeit vorbei, man würde den Briten sagen können: „Wenn es Euch nicht gefällt, dann tretet doch aus!“

Ungeregelter Brexit: Das ist nun unwahrscheinlich geworden, es sei denn, das britische Parlament stimmt nochmal ab und ändert seine Meinung erneut. Auch das kann man nach den Erfahrungen der letzten Monate aber nicht ausschließen.

Egal, was es wird, es bleibt ein Sieg für die EU, die Großbritannien entweder ohne Abkommen oder mit einem Abkommen nach Brüssels Gnaden aus der EU entlässt. In jedem Fall wäre ein abschreckender Präzedenzfall geschaffen, der Nachahmer abschrecken dürfte. Und auch eine Absage des Brexit wäre ein Sieg für die EU.

Brüssel kann nur gewinnen, London kann nur verlieren.

Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

Eine Antwort

  1. Ja, wer selbst den Tritt verloren hat, wird mit Hartleibigkeit am Ende mehr für sich verlieren, als er sich offenbar derzeit vrzustellen vermag …

    Mit ihrer oben treffend analysierten EU-Verhandlungshaltung voller Arroganz gegenüber den hintergründigsten innerbritischen Chaos-Aktionen, die man ja sehr wohl ein Stück weit unterlaufen könnte, outet sich die Gegenwarts-EU fatalerweise als einmal mehr zunehmend friedens-vergessen !

    Ganz gleich in welches der betreffenden Parlamente man hineinhört: es kann einem nur schlecht werden … – ´Frieden´ adé !??!

    Unter den folgenden Links finden alle mit Interesse an möglichen Alternativen zu den Schlagloch-Wegen der gegenwärtigen EU-Protagonisten meine Kritik an den wenige Tage alten Wahlkampf-Anstrengungen von Macron und AKK, auf die ich öffentlich auf meinemBlog (diskursblickwechsel.wordpres.com) wie per mail als einfache Bürgerin geantwortet habe.

    Es würde mich interessieren, ob irgendein Besucher des Anti-Spiegel-Blogs im von mir da kritisch Angerissenen ein ein Stük weit tragfähiges Konzept sieht ?

    https://diskursblickwechsel.wordpress.com/2019/03/10/es-ist-zeit-fuer-neu-substantielles-denken-monsieur-macron/

    https://diskursblickwechsel.wordpress.com/2019/03/13/die-eu-richtig-angepackt-da-waere-ganz-anderes-erforderich-frau-kramp-karrenbauer/

    Merci für jede eventuelle Aufmerksamkeit !

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