Das russische Fernsehen über Nord Stream 2 und die Drohbriefe des US-Botschafters Grenell

In der russischen Sendung „Nachrichte der Woche“ brachte das russische Fernsehen am Sonntag zwei Berichte zum Thema Nord Stream 2, zunächst einen Kommentar des Chefredakteurs Kiseljew über die Sanktionsdrohungen vom US-Botschafter in Berlin gegen europäische Firmen und dann einen Bericht über Nord Stream 2 generell. Ich habe beide Beiträge hier übersetzt.
 
Beginn der Übersetzung:
 
Kommentar des Chefredakteurs Kieseljew:
 
Letzte Woche las Deutschland die Briefe von Richard Grenell, dem für seine Extravaganz berühmten US-Botschafter in Berlin. Teile der skandalösen Briefe veröffentlichte die Bild-Zeitung. Indem er Anstand und die diplomatischen Gepflogenheiten erneut zur Seite wischte, verlangte Grenell direkt und schriftlich, dass die an Nord Stream-2 beteiligten Unternehmen das Projekt aufgeben sollten, andernfalls drohten amerikanische Sanktionen.
 
„Wir betonen: die Beteiligung an einem Projekt des russischen Energieexportsektors, kann für Unternehmen zu erheblichen Sanktionsrisiken führen“ schrieb Grenell.
 
Bisher hat sich der Botschafter so provokativ verhalten, dass man ihn in Berlin bereits reichlich satt hat. Er hat den Ruf eines Menschen, mit dem man sich nicht ohne Not trifft. Grenell selbst scheint jedoch nicht allzu sehr unter einem Mangel an Gesellschaft zu leiden. Auf jeden Fall sieht es so aus, wenn man ihn mit dem Mann seines Herzens sieht, von dem er sich nicht für eine Minute trennt und mit dem er gerne für die Kameras posiert.
 
Hier sind sie unter der sengenden Sonne im Urlaub am Meer. Ihr gemeinsames Hobby ist Surfen. Hier sind sie im Fernsehstudio. Wenn es ein Interview gibt, dann nur mit beiden zusammen. Egal zu welchem Thema. Hier sind sie bei Präsident Steinmeier. Und hier sind sie im Weißen Haus. Immer sind sie zusammen. Grenell leidet also nicht unter Einsamkeit. Und wenn er Deutschland erklärt, was es tun soll und was nicht, dann gibt es noch die bewährte Waffe von Trump: Twitter.
 
„Deutsche Unternehmen, die mit dem Iran Geschäfte machen, müssen das sofort einstellen“ schrieb der Botschafter auf Twitter.
 
Als Grenell dies letztes Jahr schrieb, verschluckte man sich in Deutschland fast. Und dann hat man es dennoch geschluckt. Der Botschafter wurde nicht nach Hause geschickt. Vielleicht weil der Nachfolger auch nicht besser gewesen wäre. Am Ende handelt Grenell genau im Stil seines Präsidenten Trump. Ja, er schreibt, dass die Diplomatie von Trump am effektivsten ist.
 
Die Deutschen aber kochen. So forderte beispielsweise Sarah Wagenknecht, die Vorsitzende der Fraktion der Linken im Bundestag, im Sommer den Rauswurf von Grenell aus Deutschland. Und jetzt vergleicht der stellvertretende Chef der SPD-Fraktion, Ralf Stegner, Botschafter Grenell mit einem Hohen Kommissar, also dem Vertreter der Siegermächte im besetzten Deutschland unmittelbar nach Hitlers Kapitulation am Ende des Zweiten Weltkriegs.
 
„Herr Grenell sollte wissen, dass die Zeit der Hohen Kommissare in Deutschland längst vorbei ist“ sagte Stegner.
 
Botschafter Grenell scheint jedoch nichts davon zu bemerken und antwortet den Deutschen mit amerikanischer Direktheit: „Sie haben keine militärische Macht zur Unterstützung ihrer Diplomatie. Sie sind ein anschauliches Beispiel für ein Land, in dem die Kampfbereitschaft ein ernstes Problem darstellt, es gibt keine einsatzfähigen U-Boote und keine militärische Ausrüstung. Wenn Sie eine erfolgreiche Nation sein wollen, muss hinter Ihnen auch die Androhung von Gewalt stehen.“
 
Hop oder Top. Auf jeden Fall bat das deutsche Außenministerium die Unternehmen, die Briefe vom amerikanischen Botschafter Grenell erhalten hatten, ihnen keine Aufmerksamkeit zu schenken und sich nicht von der Arbeit an Nord Stream 2 ablenken zu lassen.
 
Bericht über Nord Stream 2:
Die genaue Länge von „Nord Stream-2“ ist noch unbekannt. Ungefähr 1200 Kilometer. Wenn die dänischen Behörden keine Erlaubnis geben, die Rohre in der Nähe der Insel Bornholm zu verlegen, wird der Weg unbedeutend – etwa um 30 Kilometer – länger. Die Pipeline-Verleger von Soliter und Pioneering Spirit ziehen einander die zwei Leitungen der neuen Gaspipeline entgegen, durch die jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas von Russland nach Deutschland gepumpt werden können.
 
Jedes Rohr ist 12 Meter lang. Alle acht Minuten gehen 24 Tonnen unter Wasser. Über „Nord Stream“ kann man lange in Zahlen berichten. Zum Beispiel: Ein Tag Ausfallzeit für Pioneering Spirit – beispielsweise aufgrund eines Ausfalls der Logistik – kostet das internationale Konsortium eine Million Euro, das ist ausreichend Motivation für effektives Arbeiten. In den Küstengebieten wurden bereits 400 Kilometer der Gaspipeline verlegt, schnell und unsichtbar.
 
Wenn man nicht wüsste, dass Nord Stream 2 hier am Strand anlandet, würde man nichts davon bemerken. Aber tatsächlich verläuft sie hier in fünf Metern Tiefe unter dem Strand. Jetzt ist es zu kalt, um darüber nachzudenken, aber bei gutem warmem Wetter kann man hier ein Picknick machen oder direkt über den Rohren mit einem Druck von einhundert Atmosphären ein Sonnenbad nehmen. Es ist absolut sicher, die Gasleitung hält auch 220 Atmosphären stand.
 
Einige hundert Meter vom Ufer entfernt, verläuft die Pipeline unter einem Waldgürtel hindurch, der den Strand von der Baustelle der Empfangsstation abschirmt. Von hier aus wird das Gas über die NEL-Pipeline in den Westen und über die im Bau befindliche Eugel-Pipeline in den Süden, in die Tschechische Republik und Österreich geleitet. Unter den Teilen, aus denen die Station besteht, sind auch massive Stahlschalen.
 
„Sie können hier ein großes Sicherheitsventil sehen. Es wurde in Italien hergestellt, das Gewicht der Konstruktion beträgt 100 Tonnen. In diesem Abschnitt befinden sich sechs solcher Ventile, in Russland acht. Wenn Reparaturen erforderlich sind, können Sie mit diesen Ventilen den Gasfluss innerhalb einer Minute unterbrechen.“ sagte Steffen Ebert, der offizielle Vertreter der Firma Nord Stream-2.
 
Daher ist alles ordentlich, sauber und ruhig, wie die nahe gelegene Pumpstation von Nord Stream-1, die seit acht Jahren 55 Milliarden Kubikmeter pro Jahr befördert, zeigt. Gleichzeitig hat die Stadt Lubmin, in der sich das alles befindet, nicht an Attraktivität verloren, im Gegenteil. Die Steuern kamen dem örtlichen Haushalt zu Gute: eineinhalb Millionen Euro pro Jahr, und es werden bald drei Millionen sein. Nicht schlecht für eine Gemeinde mit 2.200 Einwohnern.
 
„Dank dieser Einnahmen konnten wir Straßen reparieren und die Straßenbeleuchtung verbessern. Wir bauen und reparieren unser Stadion, in dem Schulen, Kindergärten und Sportvereine trainieren können. Dieses Geld, hätten wir ohne die Gewerbesteuer von Nord Stream-1 nicht “ sagte Axel Vogt, der Bürgermeister von Lubmin.
 
Der Gewinn aus den Gaspipelines, den Lubmin erhält, deckte den Verlust des ehemaligen großen Steuerzahlers, von dem nur riesige Betonkästen übriggeblieben sind, mehr als aus.
 
Dies ist genau der Punkt, an dem Nord Stream 2 endet und das europäische Gastransportsystem beginnt, und auch der Ort, an dem die Zukunft der deutschen Energieversorgung auf die Vergangenheit trifft: Es handelt sich um ein Atomkraftwerk, das abgerissen wird. Deutschland hat die Atomenergie aufgegeben und plant, die Kohleerzeugung einzuschränken und auf Gas und erneuerbare Energien umzusteigen, die jedoch stark vom Wetter abhängig sind. Wenn nichts unternommen wird, haben Deutschland und ganz Europa in naher Zukunft ein Energiedefizit.
 
„Die Planung von „Nord Stream 2“ basiert auf der gemeinsamen Position verschiedener maßgeblicher Wirtschafts- und Energieforschungsinstitute, nach denen Europa mehr Gas importieren sollte. Nicht aufgrund einer stark steigenden Nachfrage, sondern weil die eigene Förderung in Europa, in der Nordsee und in den Niederlanden, sich in den nächsten zwanzig Jahren halbieren wird, wodurch ein Gasdefizit von 100 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr entstehen wird, das ausgeglichen werden muss“ sagte Jens Müller, der Sprecher von Nord Stream-2.
 
Nur Russland kann dieses Problem zu einem vernünftigen Preis lösen, von dem die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Güter auf dem Weltmarkt direkt abhängt. Heute kommt Nord Stream 2 und später vielleicht Nummer drei und vier. In Anbetracht der Entwicklungen ist dies definitiv einfacher, als das Kiewer Regime zu überzeugen, etwas in das zu investieren, was man das Gasübertragungssystem der Ukraine nennt.
 
„In der Vergangenheit bereicherte ein erheblicher Teil der Einnahmen aus Gasgeschäften mit Russland nicht den Haushalt der Ukraine, sondern private und schwarze Kassen. Es wurde praktisch kein Geld in Reparaturen und Instandhaltung der Gaspipelines investiert. Laut einer Reihe von Berichten kommt es 14-mal häufiger zu Ausfällen in der ukrainischen Gaspipeline als bei ähnlichen Objekten in anderen Ländern “ schrieb der Spiegel.
 
Durch die Pipeline, die die Ukraine von der UdSSR geerbt hat, fließen derzeit weniger als 90 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr. Nach der Fertigstellung von „Nord Stream-2“ werden etwa 30 Milliarden Kubikmeter übrigbleiben, und dann werden die ukrainischen Rohre von selbst verrotten. Die Hysterie der Kiewer Führung war nicht darauf zurückzuführen, dass das Land stabile Einnahmen in Höhe von 2-3 Milliarden Dollar verlieren würde, sie hatten sich selbst schon ausreichend bedient. Der Grund ist, dass sie zusammen mit den Polen und den Balten nicht in der Lage waren, den Auftrag ihrer Auftraggeber zu erfüllen: Europa für amerikanisches Flüssiggas zu öffnen und Pipelines aus Russland zu verhindern. Und die Auftraggeber werden nervös.
 
Der US-Botschafter in Deutschland, Richard Grenell, schickte Briefe an die Partner von Gazprom, an Wintershall, Uniper, OMV, Shell und Engie, erpresste sie und drohte mit Sanktionen. Gleichzeitig versteckt er sich hinter der Ukraine und sagt, Nord Stream 2 werde ihre politische Position schwächen. Mit dieser Art, die Leute zum Narren zu halten, verärgerte er sogar die Tolerantesten in Deutschland.
 
„Wir sind abhängig von den USA. Wir arbeiten mit den Amerikanern zusammen, aber Deutschland war nie ihre Kolonie. Wir sind nicht im Jahr 1949, sondern im Jahr 2019. In dieser Zeit hat sich viel geändert. Deutschland ist ein souveräner Staat. Früher wurde unsere Abhängigkeit in einigen Bereichen hinter Diplomatie und Freundlichkeit verborgen, daher löst das unverschämte Verhalten eines solchen Botschafters wie Grenell öffentliche Empörung aus“ sagte der Abgeordnete des Bundestags, Andrej Hunko, von den Linken.
 
Das deutsche Außenministerium, das sich an die unkonventionelle Diplomatie von Grenell gewöhnt hatte, empfahl den Konsortiumsteilnehmern, nicht auf die Briefe zu antworten. In einem Interview mit der DPA schlug der deutsche Außenminister Heiko Maas den Amerikaner mit seinen eigenen Waffen.
 
„US-Strafmaßnahmen können dazu führen, dass Bedenken, darunter auch deutsche, nicht in das Projekt einbezogen werden. Dies bedeutet nicht das Ende für Nord Stream 2. In diesem Fall wird Russland den Bau selbst fertigstellen und im Ergebnis können wir nicht mehr auf den Gastransit durch die Ukraine bestehen“ sagte Maas.
 
Die Fortsetzung des ukrainischen Transits ist eine Bedingung, mit der Vertreter der deutschen Regierung das Thema Nord Stream 2 begleiten. Volumen und Bedingungen der Fortsetzung sind nicht definiert, die Deutschen wollen einfach nur, dass der Transit irgendwann aus technischen Gründen aufhört. Und wenn dies geschieht, dann soll es für Industrie und Heizungssysteme in Deutschland so folgenlos wie möglich passieren. Daher wird Nord Stream 2 noch in diesem Jahr fertig gebaut.
 
Ende der Übersetzung
Wenn Sie sich für die russische Sicht auf die internationale Politik interessieren, sollten Sie sich mein Buch einmal ansehen, in dem ich Putin selbst mit langen Zitaten zu den aktuellen Fragen zu Wort kommen lasse. Dies Buch war aus meiner Sicht notwendig, weil in den westlichen Medien zwar viel über Putin berichtet wird, aber er selbst nie zu Wort kommt. Und wenn doch, werden seine Aussagen so aus dem Zusammenhang gerissen, dass sie einen völlig anderen Sinn bekommen.
Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

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