Massenproteste in Armenien

Erzbischof Bagrat Srbasan könnte neuer Premierminister werden

Seit 2020 macht Armenien einseitig territoriale Zugeständnisse an Aserbaidschan. Nun will Premierminister Nikol Paschinjan vier Grenzdörfer abtreten, die zum armenischen Staatsgebiet gehören. Die Bevölkerung ist empört. Am 4. Mai 2024 begann im Grenzdorf Kirants ein Protestmarsch. Die Demonstrationen dauern bis heute an.

Historisch gesehen hatte Armenien immer gute und vertrauensvolle Beziehungen zu Russland. In meinem Artikel „Wie Armenien in wenigen Jahren zerstört hat, was es in Jahrzehnten aufgebaut hatte“ habe ich über die armenische Außenpolitik geschrieben und auch die Geschichte des Bergkarabach-Konflikts und der Beziehungen zu Aserbaidschan ausführlich dargestellt.

In den letzten Jahren hat Armenien jedoch einen außenpolitischen Kurs in Richtung Westen eingeschlagen, der die Beziehungen zu Moskau verschlechtert hat. Als Paschinjan an die Macht kam, begann er auch, pro-europäische “Werte” in Armenien einzuführen und versuchte so, die traditionelle Struktur der armenischen Gesellschaft zu verändern und zu liberalisieren. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wuchs.

Der Siedepunkt war der Anspruch Aserbaidschans auf armenisches Territorium in diesem Jahr. Es geht um vier4 Dörfer in der Region Tawusch an der Grenze zu Aserbaidschan. Dies ist eine der Bedingungen für den Abschluss eines Friedensvertrages zwischen Armenien und Aserbaidschan.

Was passiert, wenn die Gebiete an Aserbaidschan fallen?

Der jüngste Besuch von Nikol Paschinjan in Tawusch hat die Bewohner der Region entsetzt. Die Behauptung, er wolle die Probleme mit Aserbaidschan lösen und einen dauerhaften Frieden schaffen, überzeugt nicht einmal mehr sein Team. Tatsache ist, dass Aserbaidschan als Gegenleistung für die Abtretung der Dörfer keine Grenzkarte zu Armenien akzeptiert.

Das heißt, wenn Paschinjan diese vier Dörfer aufgibt, hat Armenien keinen Frieden, sondern noch mehr Sicherheitsprobleme, was Baku dazu veranlassen wird, härtere Bedingungen für einen Frieden zu stellen. Die armenischen Streitkräfte werden aus dem Gebiet dieser vier Dörfer abgezogen, und zwar das 3. Armeekorps, das immer als das kampfstärkste galt, nicht nur weil es über einen guten Führungsstab verfügte, sondern auch weil es sich in einer günstigen Lage zu Aserbaidschan befand.

Außerdem verlaufen einige Abschnitte der Autobahn Idschewan-Nojemberjan-Georgien durch dieses Gebiet. Das bedeutet, dass Armenien die Route Armenien-Georgien-Russland aufgeben wird, wenn Abschnitte der Autobahn unter aserbaidschanische Kontrolle geraten. Der Verlust der Kontrolle über die Straße bedroht auch die physische Existenz der Gaspipeline von Georgien nach Armenien.

Anti-Regierungskundgebungen

Seit einem Monat finden auf dem zentralen Platz der armenischen Hauptstadt Anti-Regierungskundgebungen gegen die Abtretung armenischer Gebiete an Aserbaidschan statt. Anführer der regierungskritischen Proteste ist der armenische Erzbischof Bagrat Srbasan.

Es ist nicht das erste Mal, dass es zu Protesten gegen Nikol Paschinjan kommt. Die Opposition hat immer wieder versucht, den Premierminister loszuwerden, aber Paschinjan ist so fest im Amt, dass er die Parlamentswahlen auch nach seiner Niederlage im 44-Tage-Krieg gegen Aserbaidschan gewinnen konnte.

Allerdings unterscheiden sich die neuen Proteste radikal von denen der Vergangenheit. Erstens wird die Bewegung „Tawusch im Namen der Heimat“ nicht von einem Vertreter der Politik, sondern von einer religiösen Persönlichkeit – Erzbischof Bagrat Srbasan – angeführt. Zweitens äußert der Erzbischof keinen Hass gegen die Regierung, sondern ruft zu Frieden und Einheit auf, um die äußeren Herausforderungen zu bewältigen.

Auf einer Kundgebung sagte der Erzbischof:

„Wir sind mit einem umfassenden Programm der inneren Versöhnung in den Kampf gezogen und haben uns im Namen der Versöhnung, der Wahrheit und der Liebe gegen Lüge und Falschheit, Hass und Feindschaft gestellt. Mit anderen Worten: Im Kern geht es bei dieser Bewegung um Werte und zivilisatorischen Wandel. Die gegenwärtige Regierung ist nicht nur dabei, unseren Staat auf kriminelle Weise aufzugeben – es geht um seine physische Existenz -, sondern, was noch erschreckender ist, sie versucht, den Inhalt, die Identität und die Werte unseres Heimatlandes zu verändern, indem sie unsere Symbole, Träume und Bestrebungen, unser Existenzrecht und unsere Geschichte angreift. Sie haben vergessen, dass die Seele den „Geist“ besiegt hat, dass die Trikolore „Schwarz und Weiß“ besiegt hat und dass die Kirche schließlich die Straße besiegen wird. Und als Ergebnis all dessen wird das geistliche Armenien das heutige ’neue‘ Armenien besiegen“

Am 26. Mai um 16.00 Uhr versammelten sich mehr als hunderttausend Menschen zu einer weiteren Kundgebung, die von der Bewegung „Tawusch im Namen der Hemat“ organisiert worden war, auf dem Platz der Republik in Jerewan. Gurgen Melikjan, Professor an der Fakultät für Orientalistik der armenischen Staatlichen Universität, schlug dort vor, Erzbischof Bagrat Srbasan als Kandidaten für das Amt des Premierministers zu nominieren. Bagrat Srbasan stimmte der Nominierung zu und teilte mit, dass er nach Beratungen mit dem Katholikos aller Armenier und seinen geistlichen Brüdern beschlossen habe, sein 30-jähriges geistliches Amt ruhen zu lassen.

Anschließend marschierte die vom Erzbischof angeführte Demonstration zum Regierungssitz, um den Rücktritt von Premierminister Nikol Paschinjan zu fordern. Bagrat Srbasan kündigte auch an, sich mit Paschinjan treffen zu wollen. Bagrat Srbasan wandte sich an Premierminister Paschinjan und forderte seinen Rücktritt. Er sei bereit, mit ihm über eine friedliche Machtübergabe zu sprechen.

Die Proteste dauern bis heute an. Heute um 10.00 Uhr fand eine Kundgebung vor der Kirche statt, von der aus der Marsch zur Untersuchungskommission Armeniens begann. Auch Zusammenstöße zwischen Polizei und Oppositionellen dauern an. Medienberichten zufolge gehen die Ordnungskräfte gewaltsam gegen die Demonstranten, darunter auch gegen Geistliche, vor.

Bagrat Srbasan selbst äußerte seinen Unmut über das Verhalten der Polizisten:

„Es ist erstaunlich, wie der US-Botschafter über Reformen sprechen kann, riesige Geldsummen für sogenannte Reformen bei der Polizei bereitstellt, während 40 Leute aus den Reihen der Polizei, ich weiß nicht, wer sie sind, Hooligans oder Polizisten, eine Person vor aller Augen zusammenschlagen“.

Diakon Daniel Geworgjan schilderte den Reportern die Einzelheiten des Vorfalls, der sich vor dem Außenministerium ereignet hatte:

„Das Beleidigendste war, dass sie mich geschlagen und ‚Heiliger Vater‘ gerufen haben. Ich verstehe nicht, wie man sich so benehmen kann. Jetzt weiß ich, dass die zu allem fähig sind.”

Die Polizei verhaftet alle ohne Gerichtsverfahren, auch Teilnehmer des 44-Tage-Krieges. Noch immer ist unklar, wofür die Polizei und die armenische Regierung überhaupt kämpfen. Für den armenischen Anwalt Varasdat Harutjunjan handelt es sich nicht um eine Abgrenzung, sondern um einseitige Zugeständnisse:

„Es ist notwendig, die Begriffe zu klären. Was in Tawusch geschieht, ist keine ‚Grenzziehung und Demarkation‘, sondern einseitige territoriale Zugeständnisse. So wie in Sjunik die Hauptstraße Goris-Kapan aufgegeben wurde. Der in Tawusch durchgeführte Prozess entspricht weder den Prinzipien und Regeln des besonderen und internationalen öffentlichen Rechts der „Grenzbefreiung“, noch den Anforderungen der nationalen Gesetzgebung der Republik Armenien“.

Während der heutigen Proteste sagte Bagrat Srbasan, dass die Protestbewegung alle möglichen Optionen diskutiere, die zu einem Machtwechsel in Armenien führen könnten, einschließlich des Entzugs der Mandate der Opposition:

„In den nächsten Tagen werden wir eine große Demonstration ankündigen, die wahrscheinlich die endgültige Bestätigung für den Sieg der Wahrheit in unserem Land sein wird“.

Ist ein Machtwechsel möglich?

Die Menschen haben die alten Machthaber satt und wollen ein klares Programm, das das Land aus der Krise führt. Ein solches Programm haben die Demonstranten bisher nicht vorgelegt. Wenn Bagrat Srbasan wirklich Premierminister werden will, muss sein Team eine Alternative präsentieren, die sowohl die inneren als auch die äußeren Probleme Armeniens lösen kann.

Das armenische Volk ist in Aufruhr, weil es weder die antirussische Politik der Paschinjan-Regierung, noch territoriale Zugeständnisse an Aserbaidschan unterstützt. Unter den gegebenen Umständen kann die einzige Rettung nur in einem Machtwechsel und einer Annäherung an Russland bestehen, denn dass der Westen Armenien in irgendeinem Punkt helfen möchte, ist nicht absehbar.

Russland, das auch zu Aserbaidschan gute Beziehungen hat, könnte hingegen einen tragfähigen Kompromiss vermitteln. Das hat Moskau schon bei dem Krieg um Bergkarabach getan. Es war Paschinjan, der diesen Kompromiss durch einseitige Zugeständnisse an Aserbaidschan aufkündigte und damit die weiteren Entwicklungen angestoßen hat, die zu dem zweiten Krieg und den heutigen Problemen geführt haben.


Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

3 Antworten

  1. Wieder ein gutes Beispiel, wie man am Arsch ist, wenn man den westlichen Versprechungen Glauben schenkt.
    Die EU winkt immer mit Beitrittsverhandlungen, obwohl die Vertreter der EU genau wissen, dass keine Voraussetzungen für einen Beitritt gegeben sind. Nur für ein armes Land sind es verheißungsvolle Aussichten um aus der Armut zu kommen. Der Westkurs wird eingeschlagen und dann verarmt das Land noch viel mehr, weil es dafür die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland abschafft.
    Wenn es zu Neuwahlen kommt, wird die EU mit dem amtierenden Präsidenten schnell Verhandlungen starten. Es wird auch etwas Geld fließen und die Menschen denken, jetzt wird es Besser, wir kommen in die EU. Und dann nach der Wahl? Arschtritt und Ausverkauf des Landes. Immer das gleiche Muster. Auch in Moldawien wurden den Versprechungen der EU geglaubt und jetzt? Jetzt befindet sich das Land kurz vor einem Bürgerkrieg und die Opposition wird verboten. Demokratie nach westlichem Vorbild.
    Sollte der Bischof noch gefährlich werden, dann kann es sogar sein, dass er von seinen eigenen Leuten beseitigt wird. Die Kirche ist halt die mächtigste Mafia.

  2. Tja, und das erwähnte gute Verhältnis Russlands zu Aserbaidschan wiederum dürfte nicht unwesentlich vom Verlauf der neuen Handelsroute „International North-South Transportation Corridor“ (INSTC) beeinflusst sein, die rund 7.200 Kilometern lang ist, damit deutlich kürzer als per Schiff um ganz Europa herum, und von Indien aus zunächst auch übers Meer, aber dann vom Iran über Aserbaidschan nach Russland verläuft…

  3. Auszug –

    „Außerdem verlaufen einige Abschnitte der Autobahn Idschewan-Nojemberjan-Georgien durch dieses Gebiet. Das bedeutet, dass Armenien die Route Armenien-Georgien-Russland aufgeben wird, wenn Abschnitte der Autobahn unter aserbaidschanische Kontrolle geraten. Der Verlust der Kontrolle über die Straße bedroht auch die physische Existenz der Gaspipeline von Georgien nach Armenien.“

    …keine weiteren Fragen mehr. 😤😎

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