Frust in Kiew

Die Ergebnisse des Gipfeltreffens von Putin und Biden aus ukrainischer Sicht

In der Ukraine wurde das Gipfeltreffen von Biden und Putin mit besonderer Spannung verfolgt. Aber die dortigen Hoffnungen auf einen schnellen Nato-Beitritt und auf Unterstützung der USA, das Minsker Abkommen zu zerreißen, haben sich nicht erfüllt. Aus Kiew gab es deutliche Worte.

Führende Vertreter Kiews sagen schon seit Jahren offen, dass sie das Minsker Abkommen nicht umsetzen wollen, was die westlichen Medien konsequent verschweigen. Nun hat man sich in Kiew erhofft, dass US-Präsident Joe Biden Kiew gegenüber Putin den Rücken stärken werde. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Mehr noch: Auch der von Kiew bei jeder Gelegenheit geforderte schnelle Nato-Beitritt der Ukraine war kein Thema.

Das russische Fernsehen hat am Sonntag in der Sendung „Nachrichten der Woche“ einen Bericht aus der Ukraine gebracht, der die Situation und die Reaktionen in dem Land zusammengefasst hat. Ich habe den Bericht des russischen Fernsehens, der die sehr deutlichen und teilweise überraschenden Erklärungen aus Kiew zeigt, übersetzt.

Beginn der Übersetzung:

„Ich weiß nicht, aber warum nicht?“ Das Drama von Selensky

Beim Putin-Biden-Gipfel in Genf fand etwas statt, was Kiew als amerikanischen Verrat ansieht. Immerhin sagte der US-Präsident unmissverständlich: „Wir haben vereinbart, die Umsetzung des Minsker Abkommens mit diplomatischen Mitteln zu erreichen.“

Die Reaktion aus Kiew folgte recht schnell. Es ist klar, dass Selensky Biden nicht widersprechen kann, deshalb kam die Antwort vom Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Alexei Danilov. Er sagte über das Minsker Abkommen:

„Wir denunzieren es nicht, mit dem Minsker Abkommen müssen wir arbeiten, es gibt kein anderes. Aber man muss verstehen, dass wir es in der Form, die wir haben, nicht umsetzen können“, sagte Danilov. Also einfach: ja, aber nein.

In Genf wurde Putin auch zum Minsker Abkommen befragt. „Was die Ukraine betrifft, ja, dieses Thema wurde berührt. Ich kann nicht sagen, dass das sehr detailliert war. Aber soweit ich Präsident Biden verstanden habe, stimmt er zu, dass das Minsker Abkommen die Basis der Regulierung im Südosten der Ukraine sein sollte. Was einen möglichen Beitritt der Ukraine zur NATO betrifft – dieses Thema wurde kurz gestreift. Hier gibt es wohl nichts zu besprechen“, sagte das russische Staatsoberhaupt.

Das Thema des NATO-Beitritts der Ukraine wurde „gestreift“. Es ist nicht ganz klar, wer das gemacht hat, Putin oder Biden, aber auf jeden Fall ist Putins Bemerkung, dass „es hier nichts zu besprechen gibt“, viel wert. Da ist sie, die „rote Linie“.

Was das Minsker Abkommen betrifft, so stellt Putin immer wieder die russische Position im Detail klar. Auf die Frage nach den Verpflichtungen Russlands daraus war der Präsident kategorisch: „Was die Verpflichtungen in Bezug auf die Ukraine angeht. Wir haben nur eine Verpflichtung – die Umsetzung des Minsker Abkommens zu unterstützen. Wenn die ukrainische Seite dazu bereit ist, werden wir diesen Weg gehen, ohne jeden Zweifel. Übrigens, ich möchte Sie auf Folgendes aufmerksam machen. Bereits im November letzten Jahres stellte die ukrainische Delegation ihre Überlegungen vor, wie ihrer Meinung nach das Minsker Abkommen umgesetzt werden sollte. Bitte schauen Sie es sich an; das Abkommen ist kein geheimes Dokument. Darin steht, dass man zunächst einmal Vorschläge zur politischen Integration des Donbass in das ukrainische Rechtssystem und die Verfassung unterbreiten muss, und dazu muss man die Verfassung selbst ändern, so steht es da geschrieben. Das ist das Erste. Und zweitens: Die Grenze zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine entlang der Donbass-Linie wird bereits am Tag nach den Wahlen von den ukrainischen Grenztruppen übernommen. Das steht in Artikel 9. Was hat die Ukraine vorgeschlagen? Sie hat als ersten Schritt vorgeschlagen, ihre Streitkräfte an ihre ständigen Einsatzorte zurückzubringen. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die ukrainischen Truppen in den Donbass gehen sollen. Das ist das Erste. Zweitens: Sie schlugen vor, diesen Teil der Grenze zwischen Russland und der Ukraine zu schließen. Drittens: Abhaltung von Wahlen drei Monate nach diesen beiden Schritten. Man muss kein Jurist sein, man braucht keine besondere Ausbildung, um zu verstehen, dass das nichts mit dem Minsker Abkommen zu tun hat. Das widerspricht dem Minsker Abkommen vollständig. Welche zusätzlichen Verpflichtungen kann Russland hier also übernehmen? Ich denke, die Antwort ist klar.“

In der Ukraine selbst geht es derweil einfach heiß her. Von der Tribüne der Werchowna Rada gab es einen Aufruf, die Opposition zu erschießen.

Aus der Ukraine berichtet Andrei Grigoriev.

Selensky ist in seiner Uniform unter den Soldaten nicht sofort zu erkennen. Er war oft an der Front und bringt nun jedes Mal die amerikanische Presse mit – es ist in erster Linie ein Auftritt für das ausländische Publikum.

„Die Vereinigten Staaten sind weit weg von hier. Warum sollte es den Durchschnittsamerikaner interessieren? Wie betreffen die Geschehnisse die Amerikaner?“, fragt Holly Williams, Korrespondentin von CBS.

„Vielleicht wird das morgen schon bei ihren Häusern passieren“, antwortet Selensky.

„Sie glauben also, dass Russland morgen in Westeuropa sein wird?“

„Warum nicht?“

„Und als nächstes Amerika?“

„Ich weiß es nicht, aber warum nicht?“

Bei diesem Dialog voller Dramatik nimmt er während des Interviews seine Splitterschutzjacke und den Helm nicht vom Tisch. Obwohl selbst seine Eltern, in deren Küche in Krivoy Rog Selensky auch mit einem Filmteam kommt, wissen, dass er in einem anderen Genre besser ist.

„Comedy liegt ihm wahrscheinlich mehr“, sagt Alexander Selensky, Vladimir Selenskys Vater.

Der amerikanische Sender CBS hat diese Geschichte aus dem Donbass zum Treffen zwischen Putin und Biden ausgestrahlt, obwohl sie vor einer Woche gefilmt wurde. Doch der Gipfel in Genf erfüllte die ukrainischen Hoffnungen nicht – das Land wurde erneut aufgefordert, sich an das Minsker Abkommen zu halten und nichts Neues zu erfinden.

„Die Ukraine muss ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen. Selenskys Team muss seine eigenen Schlüsse ziehen. Es muss lernen, die Sprache der Diplomatie zu lesen. Sie unterscheidet sich von der Sprache der Stand-Up-Comedians und der Sprache von Journalisten. Wenn die es nicht selbst tun können, sollen sie jemanden fragen, der es für sie übersetzt“, sagte Petro Poroschenko, Mitglied der Werchowna Rada der Ukraine und Vorsitzender der Partei Europäische Solidarität.

Die Ukraine ist sauer auf die Vereinigten Staaten.

„Wir werden Sie nicht mehr bitten, der NATO und der EU beizutreten. Wir werden einfach so mit ihnen zusammenarbeiten, wie es für uns von Vorteil ist. Und das wird auch für sie von Vorteil sein, wenn sie sich uns gegenüber gut verhalten. Ihre Aufsichtsräte, ihre Justizreform – sie sollen sich verpissen. Wir werden selbst entscheiden, was wir reformieren wollen. Das ist ungefähr der Ton, in dem wir anfangen sollten, mit ihnen zu reden“, sagte Oleksiy Arestovych, der Vertreter der Ukraine in der Trilateralen Kontaktgruppe zum Donbas.

Internationale Institutionen ignoriert das Land ohnehin.

„Wie danken der UNO und vor allem dem Kommissar für Menschenrechte, dass sie der Situation in unserem Land ihre Aufmerksamkeit schenken und unsere Rechte nicht nur als Journalisten, sondern auch als Menschen schützen.“, sagt die Journalistin Julia Koltak.

Das sind de Mitarbeiter der oppositionellen TV-Sender, die von Selensky ohne Gerichtsverfahren geschlossen wurden, die sich an das UN-Büro in Kiew wandten – die Organisation bezeichnete den Angriff der ukrainischen Regierung auf die Presse in ihrem Bericht als inakzeptabel: „Diese Entscheidung verstößt gegen internationale Menschenrechtsstandards, da sie nicht durch Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist und nicht von einem unabhängigen Gremium getroffen wurde.“

Aber diese Meinung hat die ukrainische Regierung nie gehört. Ebenso wenig wie die Gebete tausender Gläubiger, die in einer Prozession zum Präsidialamt marschierten. „Bei uns gelten keine Gesetze, die Verfassung wird ignoriert. Der Staat mischt sich in die Angelegenheiten der Kirche ein“, sagt diese Demonstrantin.

Die kanonische ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats soll umbenannt werden, weil die abgespaltene Kirche, die unter Poroschenko entstanden ist, ihren vertrauten Namen haben will. „Wir sind gekommen, um unsere Kirche zu beschützen, damit unsere Rechte nicht verletzt werden“, sagt diese Frau.

In dieser Kirche wurde jetzt zum Beispiel Orest Viskul begraben, der während des Großen Vaterländischen Krieges in der SS-Division „Galizien“ gedient hat. Und bei den Feierlichkeiten zu seinen Ehren stand an den Toren der St. Michaels-Kathedrale – wie bei einer staatlichen Zeremonie – eine Kompanie der Ehrengarde des Präsidentenregiments.

„Sind Ihr verrückt geworden?! Ihr lebt auf dem Land, dessen Boden mit dem Blut Eurer Großväter getränkt wurde, die gestorben sind. Und Ihr ehrt Faschisten! Was denkt Ihr Euch?! Wo ist Euer Gewissen?! Tod dem Faschismus!!“, rief Vadym Rabinovich, Co-Vorsitzender der Fraktion „Oppositionsplattform – Für das Leben“ in der Rada.

Die Opposition veranstaltete eine antifaschistische und Antikriegs-Kundgebung in der Nähe der Werchowna Rada. „Wenn es keinen Frieden gibt, wird es gar nichts geben. Jeder Schritt zum Frieden ist ein richtiger, ein notwendiger, ein heilsamer Schritt“, ist sich Rabinovich sicher.

Sie sind bereit, selbst über den Frieden im Donbass zu verhandeln, wenn die Regierung ihnen dieses Recht überträgt. Allein in den Straßen von Kiew gab es in letzter Zeit so viele Proteste, dass der Präsident sie bereits durcheinander bringt.

„Schauen Sie, was heute vor der Werchowna Rada los ist. Großmütter und Kinder sind dabei. Die „Oppositionsplattform – für das Leben“. Da stimmt wieder etwas nicht mit der Kirche. Und alle sind so besorgt über dieses Thema, dass Tausende von Omas mit gelben Mützen kamen“, sagte Selensky.

„In den Augen des Präsidenten ist alles durcheinander geraten. Und nicht nur in seinen Augen, sondern auch in seinem Kopf. Er gerät oft und viel durcheinander. Wir haben bei der Pressekonferenz gesehen, wie seine Gedanken durcheinander geraten sind und so weiter. Das waren zwei völlig verschiedene Aktionen, die zu völlig verschiedenen Zeiten durchgeführt wurden“, sagte Artem Marchevsky, Leiter des Jugendflügels der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“.

Warum sich mit denen beschäftigen, die gegen seine Politik sind: Selenskys Leute in der Werchowna Rada schlagen generell vor, dass die gesamte ukrainische Opposition physisch vernichtet werden sollte.

„Es wird gefragt: Wann endet die Ära der Armut? Dann, wenn die Ära dieses Schwachsinns endet. Wenn das müde Volk diese ganze Oppositionsfraktion auf die Straße zerren und erschießen wird“, sagte Nikita Poturaev, Mitglied der Werchowna Rada der Ukraine und der Fraktion Diener des Volkes Fraktion.

Die präsidiale Fraktion verliert nicht nur bei Prügeleien im Parlament. „Diener des Volkes“ wurden aus denjenigen gebildet, die von anderen Parteien zu Selensky übergelaufen sind.

Selbst Parteikollegen buhen die neuen Mitglieder der Volksdienerpartei aus. Es ist allen bekannt, dass Virastyuk die Wahlen verloren hat und entgegen aller Gesetze in die Werchowna Rada gekommen ist – auf Entscheidung der Wahlkommission. Mit seinen Parteikollegen, die vor zwei Jahren vom Volk gewählt wurden, ist er nur durch den Bandera-Slogan „Heil der Ukraine! Heil den Helden!“ verbunden.

Unter diesem Symbol, wie hier in Mariupol, marschiert auch das nationalistische Regiment Asow, dessen Banner und Abzeichen die Wolfsangel-Rune tragen – das Symbol der SS-Division „Das Reich“.

Ende der Übersetzung


Wenn Sie sich für die Ukraine nach dem Maidan und für die Ereignisse des Jahres 2014 interessieren, als der Maidan stattfand, als die Krim zu Russland wechselte und als der Bürgerkrieg losgetreten wurde, sollten Sie sich die Beschreibung zu meinem Buch einmal ansehen, in dem ich diese Ereignisse detailliert auf ca. 670 Seiten genau beschreibe. In diesen Ereignissen liegt der Grund, warum wir heute wieder von einem neuen Kalten Krieg sprechen. Obwohl es um das Jahr 2014 geht, sind diese Ereignisse als Grund für die heutige politische Situation also hochaktuell, denn wer die heutige Situation verstehen will, muss ihre Ursachen kennen.

Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

3 Antworten

  1. Die Frage an Putin nach den russischen Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen zeugt zum X-ten Mal von der völligen Inkompetenz der westlichen Journaille, denn die haben die zweieinhalb Seiten des Abkommens nicht mal gelesen und plappern nur den Unsinn westlicher Politiker nach. Russland wird im Abkommen nicht mal erwähnt, kann also auch keine Verpflichtungen erfüllen!

Schreibe einen Kommentar