Wie sich die Arbeitswelt in Russland von der Arbeitswelt in Deutschland unterscheidet

Ich habe gestern einen Artikel darüber geschrieben, dass die russische Regierung über eine Vier-Tage-Arbeitswoche diskutiert. An den Kommentaren, die ich dazu vor allem auf Facebook gelesen habe, sehe ich, dass ich wohl die Unterschiede der Arbeitszeitmodelle zwischen Deutschland und Russland einmal erklären muss.

So habe ich eine Diskussion auf Facebook gesehen, in der die Frage der Überstunden gestellt wurde. In Russland gibt es Überstunden im deutschen Sinne gar nicht. In Deutschland gilt heute weitgehend Gleitzeit, weil das angeblich so bequem für alle ist. Die Folge von Gleitzeit sind aber in Wahrheit Überstunden, die man ansammelt und dann vor sich herschiebt.

In Russland gelten noch die „alten“ Modelle der festen Arbeitszeit, man muss also zu vorgegebenen Zeiten am Arbeitsplatz sein. Im Büro ist das in der Regel eine Arbeitszeit von 9 bis 18 Uhr inklusive Mittagspause. Das bedeutet, dass um 18 Uhr die Computer ausgeschaltet werden und man nach Hause geht.

Natürlich kann es vorkommen, dass eine Firma oder Abteilung kurzfristig mehr Arbeit hat und daher die Leute länger bleiben. Aber in solchen Fällen werden die Überstunden nicht angesammelt. Man kann sich mit seinem Chef darauf einigen, dass man nach einem solchen längeren Arbeitstag dann mal an einem anderen Tag eine Stunde später kommt oder früher geht. Aber in der Regel werden Überstunden ausbezahlt. Das Wort dafür ist „Pererabotka“ und manche Leute freuen sich über Überstunden als Möglichkeit, das Einkommen zu erhöhen.

Aber egal, wie der Einzelne es macht, dieses Modell verhindert, was man in Deutschland beobachtet: Dass Überstunden gesammelt und angehäuft werden und man im Grunde umsonst für seinen Chef arbeitet, weil man nie dazu kommt, sie abzubummeln. Eine deutsche Firma wird die Mitarbeiter lieber Überstunden machen lassen, was keine Kosten verursacht, als einen neuen Mitarbeiter einzustellen, den man bezahlen muss. In Russland funktioniert das nicht, weil Überstunden zeitnah bezahlt oder in Absprache mit den Chef zeitnah, z. B. in der Folgewoche, abgebummelt werden. Die Firmen stellen also schneller neue Leute ein, weil das einfacher ist, als die Mitarbeiter ständig zu bitten, doch mal länger zu bleiben und das dann auch mit der nächsten Gehaltsabrechnung zu bezahlen.

Übrigens gibt es in Russland auch einen sehr guten Kündigungsschutz. Es ist fast unmöglich, jemanden zu feuern. Vor Gericht haben Arbeitgeber kaum Chancen, wenn der Mitarbeiter nicht in die Kasse gegriffen hat.

Daher läuft das in Russland anders. Wenn eine Firma jemanden loswerden will, wird er zum Gespräch gebeten und dann wird über eine Abfindung verhandelt. Dabei findet sich in der Regel eine für beide Seiten erträgliche Lösung, denn der Arbeitgeber weiß, dass er seinen Angestellten nicht los wird, wenn der nicht gerade geklaut hat. Und der Angestellte wird keine Lust haben, in einer Firma zu arbeiten, in der man ihn dann jeden Tag spüren lässt, dass man ihn nicht mehr haben möchte.

Die Kündigungsfristen sind in Russland sehr kurz, oft nur zwei Wochen. Das ist für den Arbeitgeber ein Problem, denn er kann ja nur schwer Mitarbeiter kündigen. Der Mitarbeiter hingegen ist dadurch sehr flexibel. Wenn er ein besseres Angebot bekommt, kann er in weniger als einem Monat schon seinen neuen Job antreten. Und der Arbeitgeber muss sich dann schnellsten einen Ersatz suchen.

Einen neuen Job zu finden ist zumindest in den Städten kein großes Problem. Die einzigen, die ich kenne, die eine Zeit lang arbeitslos waren, waren Manager, weil Jobs im Management seltener und schwerer zu finden sind, als normale Jobs. Wer einen „normalen“ Job als Verkäufer, Büroangestellter, Friseur etc. hat, der wird schnell wieder Arbeit finden.

Das geht so weit, dass ich Leute kenne, die im Sommer regelmäßig den Job kündigen und den Sommer über „blau machen“ und sich danach wieder einen neuen Job suchen. Das sind bei weitem keine Einzelfälle. Oder ein anderes Beispiel: Ich kenne eine Erzieherin, die im letzten Jahr vier verschiedene Jobs hatte. Sie hat die Jobs gewechselt, weil ihr in einem Kindergarten die Kollegen nicht gefallen haben, im anderen die Chefin und ein Arbeitsplatz war ihr schließlich einfach zu weit weg, sie hatte nach kurzer Zeit keine Lust mehr, eine Stunde Arbeitsweg auf sich zu nehmen. Also hat sie gekündigt und sich einen Job gesucht, den sie immer auch nach weniger als einem Monat angetreten hat. Aktuell arbeitet sie als Kinderfrau bei einer reichen Familie außerhalb der Stadt und ich bin schon gespannt, wann sie Nase voll davon hat, fünf Tage die Woche ihre Freunde nicht zu sehen.

Ein weiteres Modell, dass es in Deutschland nicht gibt, ist „Urlaub auf eigene Rechnung“. Wenn jemand mal ein oder zwei Tage frei nehmen möchte, aber keinen bezahlten Urlaubstag opfern möchte, kann er sich mit seinem Chef einigen, den Tag „auf eigene Rechnung“ zu nehmen. Er bekommt frei und bekommt für den Tag eben kein Gehalt bezahlt. Das nutzen viele Menschen, wenn sie mal aus irgendwelchen Gründen ein langes Wochenende nehmen wollen, aber dafür keine Urlaubstage opfern wollen, die sie für den Jahresurlaub am Strand brauchen.

Es gibt noch viele andere Modelle, so hat nicht jeder eine Fünf-Tage-Woche. In Russland gibt es sehr viel mehr Schichtarbeit, als in Deutschland. Das liegt an den längeren Öffnungszeiten von Geschäften und so weiter. Viele größere Supermärkte haben rund um die Uhr sieben Tage die Woche geöffnet. Da gibt es dann Modelle, wie „Zwei nach Zwei“ oder „Zwei nach Drei“, bei denen man zum Beispiel zwei Tage hintereinander eine 12-Stunden-Schicht macht, danach aber zwei oder drei Tage frei hat. Auch Friseure und andere Berufe mit Kundenkontakt arbeiten meist nach solchen Modellen.

Das Thema ist zu umfangreich, um hier alles aufzuzeigen, ich wollte nur erklären, dass die Arbeitswelt in Russland sich von der in Deutschland sehr stark unterscheidet.

Und natürlich gibt es auch in Russland Chefs, die versuchen die gesetzlichen Möglichkeiten auf Kosten der Mitarbeiter „auszudehnen“. Aufgrund der flexiblen Kündigungsregelungen in Russland haben solche Firmen allerdings mit einer hohen Fluktuation zu kämpfen, weil deren Mitarbeiter sich schnell einen neuen Job suchen. Und natürlich gilt in Russland, genauso wie in Deutschland, dass es auf dem Dorf nicht so viele Möglichkeiten gibt, einen neuen Job zu finden, wie in der Stadt.

Daher war dieser Artikel als kleine Ergänzung zu meinem Artikel von gestern gedacht, er kann natürlich nicht alle Facetten und Details der russischen Arbeitswelt abdecken.

Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

Eine Antwort

  1. Lieber Thomas,
    vielen Dank für diesen sehr informativen Beitrag! Zeigt aus meiner Sicht deutlich, wie verblendet die Menschen in Deutschland sind – rennen nur noch den materialistischen Dingen hinterher. Die Idee ist toll, den ganzen tollen Sommer einfach das Leben genießen zu können und sich dann danach einen neuen Job zu suchen. Den tritt man dann doch auch gleich mit viel mehr Energie an, weil man sich endlich mal eine lange Zeit am Stück ausruhen konnte. Durch die viel zu kurzen freien Zeiten im deutschen Arbeitsleben sind die Menschen viel zu früh verbraucht. Steckt da vielleicht sogar Methode dahinter?
    Vielleicht sollten wir das in Deutschland einfach mal machen: Alle kündigen Ende Juni und machen sich einen tollen Sommer! Das Gesicht der Bundesregierung möchte ich dann gerne mal sehen…
    Vielen Dank für deine tolle Arbeit!
    Erwacht78

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